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Solar

Solar

Titel: Solar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Recht, dennoch schien es ihm zu abstrakt. Was er wirklich einzuwenden hatte, konnte er immer noch nicht in Worte fassen.
    Offenbar hatte sie mit seiner Reaktion gerechnet. Unbeirrt wandte sie sich von ihm ab und deckte den Tisch. Dann legte sie ihm beiläufig eine Hand auf den Arm und antwortete; sie sah ihn dabei nicht an, aber ihre Stimme klang versöhnlich.
    »Versuch mal, es von meinem Standpunkt zu sehen, Michael. Ich liebe dich, ich will ein Baby, ich will keinen anderen, ich sehe dich nur selten und weiß nie wann, aber ich weiß, du triffst dich auch mit anderen Frauen, du kommst weder wirklich auf mich zu, noch gehst du ganz, und so läuft das nun schon seit vier Jahren. Wenn ich nichts unternehme, bin ich irgendwann in den Wechseljahren, und das wäre dann die Entscheidung, die du mir stillschweigend aufgezwungen hättest.«
    Es klang wirklich nicht fair. Aber sie hätte ihn schließlich auch vor die Tür setzen können. Er legte seine Hand auf ihre, die noch auf seinem Arm ruhte. Eine versöhnliche Geste.
    Sie nahm den Topf vom Herd und stellte ihn auf einen Untersetzer auf dem Tisch, dann reichte sie ihm eine Weinflasche, die er öffnen sollte. Es war ein Corbieres, ein durchaus annehmbarer, und er hatte ihn für sich allein. Ihren Fingerhut Weißwein hatte sie kaum angerührt. Als er Platz nahm, fiel ihm sein Geschenk für sie ein, Badeöl und bittere Minzschokolade aus Berlin Tegel. Nicht der Moment, es ihr zu überreichen. Beide schwiegen, während sie das Essen auftat. Sie hatte seinen Protest mit einer Reihe von Vorwürfen entschärft. Er war immer davon ausgegangen, dass sie über seine Affären Bescheid wisse, aber es schockierte ihn, nein es erregte ihn, sie mit solcher Ruhe davon sprechen zu hören. Während er die Gabel zum Mund führte, erschien vor seinem inneren Auge ein lebendiges Bild, vom Hirn auf die Netzhaut projiziert: Melissa und ein Mädchen, mit dem er in Mailand etwas gehabt hatte, einträchtig nackt auf einem Himmelbett vor einer Moräne aus Kissen und Laken, aufrecht kniend in zärtlicher Erwartung, matt ausgeleuchtet wie in einem Pornomagazin. Er sah sogar die Heftklammern in der Mitte. Er blinzelte die Szene weg und begann zu essen. Sein Tagtraum hatte ihm die Kehle zugeschnürt, den ersten Bissen bekam er kaum hinunter. Sie hatte ihre Argumente überzeugend vorgetragen, er tat sich schwer, er war im Unrecht und wusste zugleich, er war im Recht, er blickte nicht mehr durch, argwöhnte aber, dass die Sache ganz einfach war: Sie hatte vom Thema abgelenkt.
    Er ließ eine Minute verstreichen, bemühte sich um einen ernsten statt anklagenden Tonfall: »Die Sache ist doch die, Melissa: Wenn du das durchziehst, bleibt mir eigentlich gar keine Wahl. Wie soll ich mein eigenes Kind ignorieren? Das kann ich nicht. Ich vermute, darauf hast du gebaut, und das halte ich dir vor. Es ist eine Form von Erpressung...«
    Das Wort hing in der Luft, er hoffte, jetzt käme es endlich zum befreienden Krach. Aber sie kaute ruhig weiter, die abgeklärte werdende Mutter, und dachte nach. Sie aß mehr als gewöhnlich.
    »Ich habe nicht darauf gebaut, dass du unser Kind nicht ignorieren kannst. Wenn es so ist, bin ich froh. Ich wusste, dass du böse sein würdest, und ich mache dir keine Vorwürfe. Ich hatte überlegt, ob ich einfach sagen sollte, es sei ein Unfall gewesen, aber damit könnte ich nicht leben.«
    Aber dass sie heimlich die Pille abgesetzt hatte, damit konnte sie leben. Er unterließ es, das auszusprechen, verkniff sich auch die Bemerkung, dass er die Zukunft schon deutlich vor sich sehe. Nach einem glücklichen Intermezzo - vorausgesetzt, er blieb standhaft und heiratete sie nicht - würde nach und nach ein nichtsnutziger, unzuverlässiger Pseudoehemann aus ihm werden, und das wiederum würde ihn zu einem nichtsnutzigen, unzuverlässigen Vater machen. Aber das war ihre Wahl, sie hatte sich das erfochten. Geburt und Abtreibung: Dafür waren Frauen auf die Straße gegangen. Er konnte wohl wirklich nichts dagegen tun. Heute entband sie ihn von seiner Verpflichtung, aber so würde das nicht laufen, so würde sie das nicht mehr sehen, wenn sie erst einmal ihr neues Leben führten und sich wie alle anderen ständig in die Wolle kriegten, mit allem Drum und Dran, Babygeschrei, Türenknallen und wild aufheulendem Motor. Dann würde ihr plötzlich einfallen, dass alles seine Schuld sei, ganz gleich, was sie jetzt sagte, wo ihr argloses Gehirn von Glückshormonen überschwemmt war - bloß ein Trick

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