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Solaris

Solaris

Titel: Solaris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Terminus. Die halsbrecherische architektonische Komposition dieses zentralen Trägers wird in statu nascendi gestützt durch pausenlos aus kilometertiefen Senkungen spritzende lotrechte Säulen aus sehr verdünnter, ja fast wäßriger Gallerte. Während dieses Prozesses gibt der Koloß ein dumpfes, langgezogenes Brüllen von sich, und ihn umgrenzt ein Wall aus heftig flatterndem, schneeigem, großblasigem Schaum. Dann erfolgen - vom Zentrum zur Umrandung hin - unsagbar komplizierte Umdrehungen der verdickten Ebenen, an denen sich Schicht für Schicht das aus der Tiefe sprudelnde, dehnbare Material ablagert; zugleich verfestigen sich die vorhin erwähnten Tiefen-Geiser zu beweglichen, tentakelartigen Säulen, wobei sie bündelweise auf genau durch die Dynamik des Ganzen bestimmte Stellen der Konstruktion zustreben und an irgendwelche himmelhohe Kiemen einer mit tausendfacher Beschleunigung wachsenden Leibes-frucht denken lassen, in denen Strömungen rosigen Bluts und dunkelgrünen, ja fast schwarzen
    Wassers fließen. Von diesem Zeitpunkt an beginnt die Symmetriade bereits ihre ungewöhnlichste Eigenschaft zu offenbaren: die des Modellierens oder schlechtweg Aufhebens gewisser physikalischer Gesetze. Schicken wir voraus, daß es zwei gleiche Symmetriaden nicht gibt, und daß die Geometrie einer jeden gleichsam eine neue »Erfindung« des lebenden Ozeans ist. Ferner: die Symmetriade produziert in ihrem Innenraum das, was man oft als »Sofortmaschinen« bezeichnen hört, obwohl diese Gebilde überhaupt nicht an eine von Menschen konstruierte Maschine erinnern; es geht hier nur um die verhältnismäßig enge und dadurch gleichsam »mechanische« Zweckbestimmtheit der Betätigung.
    Sind die aus dem Abgrund hervorgesprudelten Geiser verfestigt oder auch zu dickwandigen, nach allen Richtungen verlaufenden Galerien und Gängen aufgebläht, und haben die »Häute« ein System einander schneidender Ebenen, Überhänge, Zwischendecken geschaffen, dann rechtfertigt die Symmetriade ihren Namen dadurch, daß jeder Ausgestaltung der gewundenen Durchlässe, Züge und Rampen im Bereich des einen Pols die in allen Einzelheiten getreue Anordnung am Gegenpol entspricht.
    Nach etwa zwanzig bis dreißig Minuten beginnt der Gigant langsam einzutauchen, manchmal neigt er sich vorher acht bis zwölf Grad aus der Lotrechten heraus. Es gibt größere und kleinere Symmetriaden, aber sogar die Zwerge erheben sich nach dem Eintauchen noch gut achthundert Meter über den Horizont und sind auf Entfernungen bis zu zwanzig Meilen zu sehen. Ins Innere gelangen kann man mit geringstem Risiko gleich nach Wiedereintritt des Gleichgewichts, wenn das Ganze aufhört, tiefer in den lebenden Ozean zu sinken, während zugleich die Rückkehr in die genaue Lotrechte erfolgt; die günstigste Einbohrungsstelle ist die Gegend unmittelbar unterhalb des Gipfels. Um die verhältnismäßig glatte »Polkappe« zieht sich dort eine Zone, die von den saugrüsselartigen Ausmündungen der inneren Kammern und Kanäle wie ein Sieb durchlöchert ist. Diese Formation bildet - als Ganzes - die dreidimensionale Entwicklung irgendeiner Gleichung höherer Ordnung.
    Bekanntlich kann man in der figürlichen Sprache der höheren Geometrie jede Gleichung ausdrücken und einen Körper aufbauen, der ihre Entsprechung bildet. So betrachtet, ist die Symmetriade eine Verwandte der Lobacevskijschen Kegel und der Riemannschen negativen Krümmungen, aber eine sehr entfernte Verwandte - auf Grund ihrer unvorstellbaren Verschlungenheit. Sie bildet die ein paar Kubikmeilen Raum einnehmende Entwicklung eines ganzen mathematischen Systems, wobei diese Entwicklung vierdimensional ist: denn auch durch die Zeit, durch zeitlich ablaufende Veränderungen sind wesentliche Koeffizienten der Gleichungen ausgedrückt.
    Am nächsten lag selbstverständlich der Gedanke, wir hätten nicht mehr und nicht weniger als die »mathematische Maschine« des lebenden Ozeans vor uns, das größenmäßig just für ihn geschaffene Modell von Berechnungen, die er zu einem uns nicht bekannten Zweck benötige. Aber dieser Hypothese Fermonts stimmt heute niemand mehr zu. Verlockend war sie gewiß, aber daß der lebende Ozean mittels solcher titanischer Eruptionen, deren jedes Teilchen den unaufhörlich sich selbst weiterkomplizierenden Formeln der großen Analysis unterworfen ist, die Probleme der Materie, des Kosmos, des Seins zergliedere, - diese Vorstellung war nicht zu halten. Im Inneren des Riesen sind allzuviele

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