Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
zurück – mehr ließ das kleine Bad nicht zu – und entspannte sich etwas. Lilian zog sich den Pullover über den Kopf und öffnete den Gürtel ihrer Armeehose.
„Du musst wissen, dass ich dich nur zu deinem eigenen Schutz gefesselt habe. Es gibt ein paar Sachen, die du wissen solltest …“
Ninive ließ die Waffe ein paar Zentimeter sinken. „Und was wäre das …?“
Lilian hielt für eine Sekunde inne und sah Ninive an. Offenbar ging ihr Plan auf. Sie ließ die Hose herunter gleiten und beobachtete Ninive erneut. Eine zufällige, grazile Bewegung ihres schmalen, sehnigen Körpers, der nun nur noch in einem engen, schwarzen Body steckte, reichte aus, um den Klon abzulenken. Lilian hatte vermutet, dass Ninive es nur deshalb auf diese Mission geschafft hatte, weil sie sich Stück für Stück aus der Abhängigkeit der Neurohemmer befreit hatte, und sie bewunderte sie dafür. Doch in einem solchen Fall reichte ein kleiner, unerwarteter sexueller Reiz aus, um den Klon aus dem Konzept zu bringen. Und wenn auch nur für eine Sekunde.
Lilian griff an ihren Hinterkopf zum Haarknoten unter dem Kopftuch. Blitzschnell zog sie eine kurze, dünne Nadel hervor, sprang vorwärts und stach sie Ninive seitlich in den Hals, während sie mit der linken Hand nach der Pistole griff. Ein Schuss löste sich, der die Holzverkleidung der Decke durchschlug, dann fielen Ninive, Lilian und die Pistole zu Boden.
Ninive griff nach Lilians Handgelenk, doch ein Gefühl von Trägheit durchlief bereits ihren Körper. Lilian thronte über ihr und ihre Knie drückten so auf ihre Schlüsselbeine, dass jede Bewegung der Arme und des Oberkörpers schmerzte.
„Entschuldige, aber es ist die einzige Möglichkeit, dich zu retten“, hörte sie Lilian bedauernd sagen, dann verschwamm die Umgebung um sie herum und ihr wurde schwarz vor Augen.
Die Wunde vom Lauf der Shotgun an der Schläfe hatte aufgehört zu bluten, doch als Ninive im Gerangel mit Lilian zu Boden gefallen war, hatte sie sich den Hinterkopf aufgeschlagen. Die Wunde blutete nicht stark, doch Lilian wollte kein Risiko eingehen. Aus einem kleinen Notfallkasten unter dem Waschbecken holte sie Verbandszeug und versorgte Ninives Kopfwunden, bevor sie zur Tür des Abteils ging und Seamus hereinließ.
Der hochgewachsene Mann, der aber fast ebenso schmal war wie Lilian, zog den Kopf ein, als er durch die Tür ins Abteil schlüpfte. Er warf Lilian ein Grinsen zu und sah sich im Abteil um.
„Ihr habt es aber wild …“ Lilian schnitt ihm scharf das Wort ab: „Spar dir den Scheiß! Überleg dir lieber, wie wir unseren Klon hier rauskriegen, ohne dass wir das halbe Militär auf den Fersen haben.“
Seamus lachte: „Da ich wusste, wie deine Art der Überredung aussieht, habe ich schon vorgesorgt. Wegen der Reparaturen läuft die Stromversorgung auf Sparflamme und ich habe die Abweiser überbrückt. Wir können einfach aus dem Fenster. Aber zieh dir vorher was an, ist kalt draußen.“
Lilian warf einen Blick aus dem Fenster, bevor sie sich ihre Kleider angelte und anzog. Ein paar Meter offene Böschung mussten sie überwinden, dann empfing sie das schützende Gewirr aus Unterholz und Buschwerk. Schützend zumindest vor den Blicken der Crew des Zugs. Die Gefahren, die in der Wildnis lauerten, waren eine ganz andere Sache. Aber ein Problem nach dem anderen.
Es war eine mühsame Arbeit, Ninive durch das kleine Zugfenster nach draußen zu bugsieren. Seamus hatte ihr mit einigen aus dem Bettlaken gerissenen Streifen Beine und Handgelenke gefesselt, um sicher zu gehen, dass Ninives erste Reaktion nach ihrem Erwachen sie nicht alle vernichten würde. Doch das erschwerte das Tragen nur noch mehr. Immerhin hatte Seamus mit dem Ausschalten der Abweiser gute Arbeit geleistet. Diese seitlich an den Waggons angebrachten Leitschienen standen bei normalem Betrieb unter Hochspannung und machten ein Aussteigen fast unmöglich. Der Weg die Böschung herunter verlief schnell und ohne Zwischenfälle, doch als sie schließlich im schützenden Unterholz angekommen waren, ließ sich Lilian zu Boden fallen und atmete tief durch.
08 | SEQUANA
Das Hotelzimmer, in dem er erwachte, entsprach nicht ganz den Vorstellungen, die er von seinem Blind Date am Vorabend noch hatte. Noch schlaftrunken wälzte sich Rasmus auf den Rücken und betrachtete die Decke des Zimmers. Holzgetäfelt in sich dezent absetzenden Quadraten. Die Einrichtung sah schlicht und dennoch teuer aus, jene Art von Mobiliar, das sich
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