Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
überlegte sie, ob sie ihm einen Quickie auf der Herrentoilette vorschlagen sollte, um die Situation zu rebooten, entschied sich aber, dass er nicht der Typ dafür war.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht mit irgendwas bedrängen, aber als Frau hat man es bei dem heutigen Gesellschaftswandel nicht mehr so leicht, wie vor einigen Jahrzehnten. Und nach einer Nacht wie dieser, der Hingabe zu einem Fremden, der eigentlich nicht einmal über Nacht bleiben wollte, habe ich wohl versucht, mein Gewissen mit der Illusion einer emotionalen Bindung reinzuwaschen.“ Sequana senkte ihren Blick, dann griff sie nach ihrer Tasche und stand auf. „Entschuldige Rasmus, es war eine sehr schöne Nacht … und ein sehr schöner Morgen, aber ich sollte es wohl dabei belassen.“
Sie hatte die nächste Kreuzung noch nicht ganz erreicht, da hatte er sie eingeholt. Ihr Plan war aufgegangen. Rasmus war am Beauvoir-Institut, warum hatte sie nicht sofort gemerkt, dass sie es mit einem dieser Weltverbesserer zu tun hatte, die gegen den Gesellschaftswandel anredeten? Sie hätte es sich viel einfacher machen können.
„Ich musste noch den Kaffee bezahlen“, sagte er wie zur Entschuldigung.
„Warum bist du mir gefolgt?“, sie musste die Situation jetzt richtig ausspielen, er durfte nicht den Verdacht gewinnen, auf eine Masche reingefallen zu sein.
„Weil du Recht hast. Ich schulde dir ein Gespräch … nein, das ist doch Blödsinn. Wahrscheinlich schulde ich dir gar nichts, denn wir haben uns beide auf diese Nacht eingelassen, aus freien Stücken. Wir hatten beide unseren Spaß – zumindest hoffe ich das – und es sollte keine Rolle spielen, ob wir Mann oder Frau sind, unsere Entscheidung ist doch alles, was zählt. Aber da ich nicht nach dem Sex gegangen bin, kannst du wohl tatsächlich etwas mehr Offenheit erwarten.“
Sequana hörte ihm zu und konnte sich nur mühsam davon abhalten, die Stellen seines Monologs zu zählen, die sie unsinnig fand. Sie hatte sich für die Rolle des Sensibelchens entschieden, jetzt musste sie dabei bleiben. Auch wenn dadurch die Attraktivität ihrer körperlichen und jetzt wohl auch emotionalen Beziehung deutlich litt.
„Schon gut“, unterbrach sie ihn schließlich, „ich finde, wir vergessen die letzte Viertelstunde und beginnen unser Gespräch nochmal von vorne. Okay?“
„Klar“, Rasmus nickte und zu Sequanas innerer Freude schien er selbst froh darüber zu sein.
„Gut. Also, dann erzähl mir von dir … egal was.“
„Egal was …?“ Rasmus zögerte. Was er beruflich machte, hatte er als Icebreaker für ihr erstes Gespräch am Vorabend genutzt. „Über meine Arbeit will ich nicht mehr erzählen, damit langweile ich dich vermutlich nur. Du hast nach einer anderen Frau gefragt. Es gibt … es gab eine Frau, allerdings war sie nur eine Freundin. Ich habe sie erst vor wenigen Tagen verabschiedet. Wahrscheinlich für immer. Wir kannten uns sehr lange und es war nicht ganz einfach. Vielleicht bin ich deshalb auf emotionale Bindungen gerade etwas schlecht zu sprechen.“ Rasmus lachte.
„Wenn du sagst ‚für immer verabschiedet‘, meinst du damit …“
„Nein, sie ist nicht gestorben, falls du das meinst“, er hob abwehrend die Hände, „sie ist auf eine große Reise gegangen.“
„Wirklich? In eine andere Stadt?“
„Ja, so könnte man das sagen … in eine andere Stadt.“
„Aber du bist ihr nicht gefolgt“, stellte Sequana fest.
„Nein, ich … wieso sollte ich? Wir waren kein Paar … gut, wir waren es früher einmal, aber das ist lange genug her um zu wissen, dass wir keine gemeinsame Zukunft gehabt hätten. Sie war ein …“, er brach ab.
„Ein was?“, erkundigte sich Sequana wie beiläufig und ergriff gedankenverloren seine Hand, während sie um eine Ecke bogen und sich die Seine und ihre kleine Promenade vor ihnen erstreckte.
„Sie war ein besonderer Mensch. Nicht nur im Positiven. Kompliziert.“
„Komplizierter als du?“, bemerkte Sequana mit gut gemeintem Sarkasmus.
„Mindestens genauso kompliziert. Sie war ein Klon.“
09 | CAMARET
Es gab Leben außerhalb der großen Städte. Nicht alle Menschen hatten sich während der großen Landflucht in die Metropolen zurückgezogen, einige waren in ihren kleineren Heimatstädten geblieben, aller Gefahren zum Trotz. Camaret-sur-Mer war dank des nahen Stützpunkts, der noch immer von den Pariser Militärs genutzt wurde, von der Entwicklung der Großstadt nicht unbeeinflusst geblieben. Das galt zumindest
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