Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
ungepflegten Schaufenstern die Dunkelheit und Kälte der Cosima-Wohnanlage durchbrechen sollte. Manche erzählten sich, die Kirche habe schon vor Errichtung der Blocks dort gestanden und sei erst später vom dreckigen Beton geschluckt worden. Dagegen sprach aber, dass die Kirche im Inneren ebenso kalt, schmucklos und betonverkleidet war, wie das durchschnittliche Appartement.
Für die Kinder der Wohnanlage war die Welt eine spärlich begrünte Fläche hinter den Rodecki-Blocks – so waren die beiden neuesten und etwas heller gefärbten Häuser der Anlage benannt, die mit ihrer Errichtung den gedachten Kreis, den die Gebäude bildeten, schlossen. Hier war ein weitläufiger Spielplatz, von dem man zur besseren Aufsicht der Kinder alle größeren Sträucher und Bäume entfernt hatte, und auf dem sich die wenigen, morschen Spielgeräte und Klettergerüste krampfhaft bemühten, den verfügbaren Platz einigermaßen auszufüllen. Auf zwei Seiten war diese Welt begrenzt durch eine hohe Lärmschutzmauer, hinter der die große Umgehungsstraße lag, auf einer durch die Rodecki-Blocks und auf der letzten durch eine windschiefe Hecke, die sich verbissen an das Gerippe eines rostigen Zauns krallte, der die Umfriedung eines alten Friedhofs war.
Nach Einbruch der Dämmerung fand Nina ihn oft dort. Während die anderen Teenager vor der Tankstelle saßen und sich betranken, die Spielautomaten in einer der kleinen Kneipen füllten oder zur Karaoke-Night im Cosmos Club waren, hing er hier seinen eigenen Gedanken nach. Eigentlich erfüllte er jedes Klischee des einsamen, tiefgründigen Jungen, und dennoch war Nina verliebt – denn sie war ein Mädchen, sie konnte glauben, und sie konnte lieben. Damals.
Der Comscreen flackerte auf, noch bevor die Druckluftverriegelung der Appartementtür die Schließsequenz beendet hatte. Sequana stieg aus ihren Schuhen und beförderte diese mit einem Tritt in Richtung Garderobenspind. Sie rief den Einwahlbildschirm auf und steuerte mit einer flüchtigen Geste durch die Liste, bis sie zu einem Eintrag gelangte, der anstatt eines Namens nur eine Kette aus Buchstaben und Zahlen enthielt. Erst als sich bereits die Verbindung aufbaute, setzte sie sich und schaltete die Ambient-Beleuchtung ein, die den Raum in ein dämmriges, blauweißes Licht tauchte. Kurz darauf erschien das Zeichen einer bestehenden Rufverbindung auf dem Screen, darunter der Hinweis: „Videoübertragung durch Gesprächspartner unterbunden.“
Sequana war es gewohnt, keinen visuellen Kontakt zu ihren Auftraggebern zu haben. Gleichzeitig wurde aber eine aktive Videoverbindung ihrerseits eingefordert. Der Grund dafür war nicht der tatsächliche Sichtkontakt, denn die Ambient-Beleuchtung blendete die Kamera und ließ nur einen dunklen, unscharfen Umriss von Sequana übertragen, sondern dass mit dem Videosignale eindeutige Identifikationssignaturen übertragen wurden, die ihrem Auftraggeber zusicherten, dass sich jemand vom vorher verifizierten Screen meldete.
„Ich habe ihn gecheckt, ich glaube, den können wir vergessen“, begann Sequana ohne Einleitung. Sie wartete nie die Reaktion des Auftraggebers ab. Sie sollte Bericht erstatten, nichts weiter. Oft vergingen ganze Reports ohne dass sie ein Wort von ihrem Gesprächspartner hörte. In einigen Fällen wurde ihr Anruf auch nur aufgezeichnet. Sequana interessierte das wenig. „Rasmus Riga ist sauber und ahnungslos. Alles, was er über die Zielperson weiß, beschränkt sich auf die romantisierten Erinnerungen einer gescheiterten Beziehung … und die bereits bekannten Fakten.“
Ein Knacken in der Leitung ließ Sequana aufhorchen. Sie verstummte und wartete schweigend, fast eine Minute lang.
„Agent Sidé, bleiben Sie an Rasmus Riga dran“, erklang schließlich eine blechern verzerrte Stimme.
„Ich hab alle Informationen gegengecheckt“, entgegnete Sequana verärgert, „die Nummer ist durch.“
„Bleiben Sie an Rasmus Riga dran, Agent. Wir werden Sie informieren, wenn wir weitere Schritte einleiten. Bis dahin halten Sie den Kontakt aufrecht.“
Der Screen blinkte auf und ein Symbol wies auf die Trennung der Leitung hin. Sequana fluchte. Sie hatte sämtliche Datenbestände in Rasmus‘ Wohnung gescannt, hatte ihn dazu gebracht, über Ninive zu sprechen, so lange, bis sie es nicht mehr hören konnte. Welchen Grund gab es nun noch, den Kontakt weiter aufrecht zu erhalten? Hatte sie etwas übersehen? Oder gab es noch ein anderes Ziel hinter ihrer Mission, dass sie nicht
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