Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
brach ab. Ich gehe lieber, hätte sie fast gesagt, doch angesichts des feinen, durchdringenden Regens würde das die Unterhaltung wohl nur unnötig verlängern. „... ich finde das schon. Einfach die Straße runter, richtig?“ Sie deutete absichtlich in die falsche Richtung. Der junge Mann schüttelte den Kopf und korrigierte sie mit einem generösen Grinsen. „Andere Richtung...“
„Ah ... danke!“ Sequana wandte sich in die richtige Richtung und warf ihm ein betont naives Lächeln zu, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte.
Erleichtert stellte sie fest, dass immerhin das funktionierte. Der junge Mann sah ihr von seinem Imbiss aus nach und vergaß dabei völlig, ihr einen Snack oder etwas zu trinken andrehen zu wollen. Es war eine seit der Geburt trainierte Eigenschaft der Klone, die volle Kontrolle über sich und die Situation behalten zu wollen, und in Sequanas Fall war es eine Obsession. Die zittrigen Finger, das Frösteln, die Müdigkeit – das alles war für sie ungewohnt und schwer ertragbar. Und gleichzeitig spürte sie eine ihr bislang unbekannte Faszination, während sie über das regenglänzende Kopfsteinpflaster durch die engen Gassen des Montmartre ging. Fühlte es sich so an, wenn man ohne Neurohemmer leben konnte?
Die Wohnanlage Magritte Parc war auf den Überresten alter Gebäude zwischen dem Boulevard de Rochechouart und dem Square Louise Michel, von dem aus die Stufen hoch zur Basilica de Sacré-Cœur führten, erbaut worden. Im unteren Bereich der Anlage waren die Überreste der bei einem Großbrand vor etwa fünfzig Jahren zerstörten Häuser erhalten. Schmale Säulen ragten zwischen diesen empor und hoben die einzelnen Wohnmodule von Magritte Parc einige Meter in die Höhe. Es war als schwebten die neuen Wohnungen über einer archäologischen Ausgrabungsstätte.
Sequana war mittlerweile bis auf die Haut durchnässt. Trotz ihres leichten Gepäcks hatte sie keine halbe Stunde für den Weg vom Institut hierher gebraucht, doch als sie von der Straße abbog und den Blick hoch zu Sacré-Cœur hinter sich ließ, hielt sie kurz inne und atmete tief durch. Sie spürte das Blut durch ihre Adern strömen, das taube Kribbeln der Müdigkeit in ihren Gliedern mit jedem Atemzug nachlassen. Neben einem alten Mauerstück, das hinter Glass gesetzt und mit einem Informationsschild zur Geschichte des alten Wohngebiets versehen worden war, ließ sie sich für einen Moment auf einer Bank nieder. Es war trocken unter den Wohneinheiten auf ihren Säulen, doch sie spürte das Wasser aus ihrer durchnässten Kapuze durch die Haarsträhnen in ihren Nacken rinnen und den durchnässten Stoff ihrer Kleidung kalt an ihrer Haut kleben.
Doch für eine lange Pause blieb ihr keine Zeit. Sie musste versuchen, den Professor zu finden. Unwillig drückte Sequana sich von der Bank hoch und folgte einem kleinen Pfad durch den Säulenwald bis zu einem großen Lichthof. Die Wohnmodule waren so angeordnet, dass sie einen Platz von etwa dreißig Metern Durchmesser freigaben, der hoch oben auf Höhe der obersten Stockwerke von einer runden Glaskuppel überspannt wurde. Ein am Rand des Platzes in den Boden eingelassenes Metallband deutete den ehemaligen Straßenverlauf der Rue d'Orsel an, doch Sequana hatte genug von Straßennamen und Geschichte. Sie durchquerte den Lichthof und hielt auf eine Gruppe von Fahrstühlen zu, die in die Wohnebenen über ihr führten.
Ein kleines Terminal seitlich der Fahrstühle diente als Adressregister der Anlage. Sequana aktivierte es mit einer schnellen Geste und suchte dann im Register der Appartementnummern nach Professor Doignac. Das Terminal und die Fahrstühle waren videoüberwacht, doch das galt vermutlich auch für die Treppen und die öffentlichen Module der Anlage. Es gab für sie praktisch keine Möglichkeit, an den Kameras vorbeizukommen. Jedoch gehörte Magritte Parc zu den Orten in Paris, an denen viele einflussreiche Menschen wohnten, die den Sicherheitsteams zur Wahrung ihrer Interessen zwar fast jede erdenkliche Freigabe erteilten, selbst jedoch ungern überwacht werden wollten. Bis ein Security-Team die Videologs von Magritte Parc einsehen durfte, vergingen vermutlich einige Tage. Das sollte Sequana genug Vorsprung geben. Dennoch zog sie die Kapuze noch etwas tiefer ins Gesicht, als sie schließlich einen der Fahrstühle betrat und die Appartementnummer Doignacs eingab.
21 | HIMMELFAHRTSKOMMANDO
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