Solheim 01 | EUROPA: Der Beginn einer Dystopie (German Edition)
mit Bedacht. „Ich kann keine Verantwortung dafür übernehmen, dass du damit die richtige Wahl getroffen hast.“
„Mach dir darüber keine Gedanken, ich bin zu einer Mission ins Ungewisse und ohne Wiederkehr aufgebrochen. Meine Lage hat sich nicht bedeutend verändert.“ Ninive hatte gelernt, welches Verhalten in solchen Situationen angemessen war. Also lachte sie gelassen und beiläufig in Lilians Richtung und betrat dann forschen Schrittes den Holzsteg, an dem das Boot bereits auf sie wartete.
„Nur dass du jetzt anstatt im Dienste mächtiger Verschwörer die Reise in Begleitung einer Gruppe zusammengewürfelter Irrer antrittst.“ Lilians Antwort bestätigte, dass Ninives Verhalten den Zweck erfüllt hatte.
„Ich bin ein Klon und habe mein halbes Leben in einem Institut mit anderen Klonen und Wissenschaftlern verbracht. Erzähl mir nicht, was irre ist.“
Die Überfahrt über die Bucht von Camaret verlief ruhig. Ninive hatte sich eines der Ruder gegriffen und neben Martin Platz genommen. Sie war froh etwas tun zu können und ihre Gedanken für einige Zeit zu vergessen. Martin trug dazu bei indem er ihr wenig glaubwürdige Geschichten über das Meer erzählte. Während sie ihm zuhörte und dabei ihrem eigenen rhythmischen Atmen folgte, beobachtete sie ihre übrigen Gefährten. Ilyena saß wieder im Bug des Bootes und betrachtete Stumm das Wasser. Seamus saß neben ihr und tat es ihr gleich, auch wenn sie den Eindruck hatte, dass er hin und wieder einen unbeabsichtigt wirkenden Blick auf Ilyena warf. Isaak und Lilian führten eine wortkarge Unterhaltung, die jedoch so leise war, dass ihre Worte im Rauschen des Wassers an der Bordwand untergingen.
Sie beobachtete Lilian, die sich seit dem Vorabend verändert hatte. Ninive warf einen Blick zurück Richtung Camaret, zu der Stelle an der sie beide gestern noch im Wasser gestanden hatten. Lilian hatte unbeschwert gewirkt, lebendig und voller Energie. Sie hatte auch dort schon gewusst, auf was sie sich einlassen würden, welche Ungewissheit vor ihnen lag, doch Ninives Eindruck war bisher gewesen, dass dieser Umstand die zierliche Frau mit dem widerspenstigen Haartuch nur noch mehr beflügelt hatte. Jetzt aber wirkte sie stiller und bedrückt, und ihr Gespräch auf dem Weg hinab zum Boot hatte das trotz Ninives Bemühungen, locker und unbesorgt zu wirken, nur noch verstärkt.
„Martin?“, wandte sie sich an den blonden Mann neben ihr.
„Was gibt's?“, entgegnete er zwischen zwei Ruderschlägen. Er war bereits etwas außer Atem, jetzt da sie das Ufer unterhalb des Aéroports fast erreicht hatten.
„Wie hast du Lilian kennengelernt?“ Sie bemühte sich, die Frage beiläufig klingen zu lassen.
„In Paris“, war seine knappe Antwort. Es dauerte zwei weitere Ruderschläge, bis er sich dazu entschloss, dass dies noch nicht die ganze Geschichte war. „Ich traf sie vor dem Zivilgericht in Montparnasse. Vor dem Gerichtsgebäude, nicht vor Gericht. Sie wartete dort auf ihre Mutter. Und ich auf meinen Vater, der als Staatsanwalt dort arbeitete. Ich habe diesen ganzen Juristenscheiß immer gehasst. Und sie sah genauso Scheiße drauf aus, wie ich mich fühlte, also habe ich sie angesprochen. Und sie auf einen Kaffee eingeladen.“
„Oh, dann wart ihr zusammen?“ Ninive verlangsamte die Ruderschläge etwas, um Martin nicht den Atem zum Reden zu nehmen. Dieser lachte.
„Zusammen? Wir? Nein, dagegen sprach mehr als nur ein Grund. Einer könnte gewesen sein, dass es mein Vater war, der ihre Mutter anklagte. Ein weiterer, dass er das nicht als Staatsanwalt sondern als Kläger tat.“
„Wirklich? Warum?“
„Lilians Mutter war als Soldatin lange Jahre auf einem Außenposten stationiert, von dem aus irgendwelche Wissenschaftler operierten. Dort traf sie Lilians Vater und ... naja, fabrizierte mit ihm unsere süße Lilian. Dummerweise war sie aber bereits verheiratet, mit einem neidzerfressenen Staatsanwalt in Paris.“
„Oh...“
„Genau, das war mein Vater. Und mit ihm hatte sie einen Sohn, der geboren wurde kurz bevor sie auf ihre jahrelange Mission geschickt wurde. Ich habe ihr nie vorgeworfen, dass sie nicht zurück zu Vater wollte. Aber dass sie in all den Jahren nicht einmal das Verlangen zu haben schien, mich zu treffen, das kann ich ihr nicht verzeihen.“
„Du bist Lilians Bruder?“ Ninive musterte Martin von der Seite.
„Halbbruder. Und ja ich weiß, wir sehen uns nicht ähnlich. Die kleine Spanierin und der Wikinger wurden wir später
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