Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
befehle.«
Ob wohl irgendjemandem hier klar war, wie bescheuert es ist, einen Toten töten zu wollen, dachte Odus? Doch alle hier warteten mit angehaltenem Atem. Amos Clayton hob seine Schrotflinte, doch sie war eher auf den heimtückischen Mond gerichtet. Aus dem Lorbeergebüsch trat Will Absher, der früher Odus’ Angelfreund gewesen war, bevor dieser ihn dabei erwischte, wie er ihm Kleingeld aus dem Aschenbecher seines Pick-ups stahl. Er hatte einen Vorderlader in der Hand, der aussah, als würde er noch aus Vor-Bürgerkriegszeiten stammen. Vielleicht war das ja der richtige Weg, um den Wanderprediger in die ewigen Jagdgründe zu schicken, dachte Odus: eine Waffe aus seinen eigenen Lebzeiten. Odus hatte schon Kopfschmerzen vom vielen Nachdenken. Wahrscheinlich war seine anfängliche Idee doch die beste: Der Weg würde ihm schon gewiesen werden, wenn es so weit war.
Falls es heute so weit sein sollte, dachte Odus. Denn noch sah es nicht so aus, als ob Harmon Smith heute Nacht sterben wollte.
Sister Marys Flanken bebten unter Odus. Einen Moment lang war er sich nicht sicher, ob es nicht sein eigenes Zittern war, das sich so lange aufgebaut hatte, bis es ins gesprenkelte Fleisch des Pferdes überging.
Noch eine Handvoll Leute strömte aus dem Wald, einer von ihnen saß sogar auf einem Pferd. Als schließlich James Greene mit einem Maultier am Führstrick in die Mitte der Lichtung trat, zeigte der Wanderprediger sein schwarzes Lächeln.
»Jetzt, wo wir alle da sind, wollen wir doch einmal sehen, wer von uns bereit ist, heute Nacht ins Königreich einzutreten«, sagte der Prediger.
50. KAPITEL
Eigentlich wollte Sarah nicht abdrücken. Das versicherte sie sich zumindest immer wieder. Doch die Reflexe einer alten Frau lassen mit der Zeit eben nach. Eine Schrotflinte war eine tolle Waffe, wenn man einen Dieb aus nächster Nähe niederstrecken wollte, doch es ließ sich eigentlich kaum vermeiden, dass der Schrot streute.
Ein paar blutende Ziegen wären keine schlechte Belohnung , dachte sie, als das Echo des Schusses von den Granitbrocken abprallte und durch die Bäume donnerte. Blaugrauer Rauch wirbelte im Scheinwerferlicht des Jeeps, und ein beißender Korditgeruch legte sich über den feuchten Humusduft der Berge und den Gestank der Ziegen. Ihre gebrechlichen Schulterknochen schmerzten vom Rückstoß.
Sie wollte die Ziegen niederstrecken, die direkt neben Ray Tester lagen, denn sie sahen gerade so aus, als wollten sie sich über seine Beine hermachen. Doch was sie völlig aus der Bahn warf, war der Anblick des Ziegenbocks, der in ihren Laden eingedrungen war. Sie war eigentlich nicht nachtragend und glaubte daran, dass alle Wesen Gottes ihren rechtmäßigen Platz auf Erden hatten. Doch das hier war dieselbe Welt, in der auch solche Monster wie Harmon Smith ihr Unwesen trieben. Und Gordon Smith schien auch völlig durchgedreht zu sein.
Sie hatte diesem Mann nie so richtig vertraut, und das lag nicht nur an seinen Vorfahren. Immer, wenn er in ihrem Laden etwas aß oder einen Kaffee trank, rechnete er das Trinkgeld auf der Rückseite seines Kassenzettels peinlich genau auf fünfzehn Prozent aus. Dann rundete er es auf den Penny genau auf. Sarah konnte sich gut vorstellen, was seine schlanke, rothaarige Frau alles durchmachte. Jetzt war er plötzlich mit hier aufgetaucht, hatte er sich in eine Art Halloween-Kostüm geworfen und begann die Leute umzulegen.
Der Schuss hatte kurzzeitig für Ruhe gesorgt, wie am Anfang der kleinen Versammlung. Doch der Frieden war trügerisch, verursacht durch Überraschung und Schreck. In diesem kurzen Augenblick der Ruhe nahm Sarah winzige Kleinigkeiten war, bevor die Nacht explodierte: Sue Norwood öffnete die Fahrertür ihres Jeeps. Odus saß aufrecht auf seinem ungesattelten Pferd und schaute in die Runde wie ein Viehdieb, der den besten Fluchtweg sucht. Der Mann mit Pfeil und Bogen zielte entweder auf Gordon Smith oder auf den Wanderprediger. Ray war auf die Steinplatte geklettert und kroch auf den Wanderprediger zu. Gordon in seinem Vogelscheuchenkostüm griff mit einer behandschuhten Hand nach dem Wanderprediger und zog dessen schwache Stirn nach hinten, so dass der blasse, knorrige Hals des toten Predigers sichtbar wurde. Die Ziegen standen wie auf einen stillen Befehl hin auf, und David Tester rannte mitten in die aufgewühlte Herde hinein. Es war nicht ganz klar, ob er seinem Bruder folgte oder ob er ebenfalls einen verzweifelten Ansturm auf den
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