Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
toten Prediger zu Leibe rücken kann.«
Sue schlug mit dem Griff der Axt auf ihre Handfläche, dass es knallte. »Fühlt sich auf jeden Fall gut an. Als wären wir miteinander verschmolzen.«
»Na dann«, sagte Sarah und wühlte unter dem Ladentisch, bis sie ihre 20 Kaliber Schrotflinte gefunden hatte. Sie knickte den Lauf und prüfte die Ladung. Das Gewehr war seit fünf Jahren nicht mehr benutzt worden, doch alles war noch trocken. Sie griff in ein Regal hinter dem Ladentisch, wo die Munition stand. Dann zog sie eine Kiste mit feinem Schrot heraus, öffnete sie und steckte sich drei Patronen in die Hosentasche.
»Wenn ich mehr als drei Schüsse brauche, dann ist der letzte für mich«, sagte sie und schnippte mit dem Daumen gegen ihr Kinn, als ob sie sich selbst die Rübe wegpusten wollte. Immer noch besser, als wenn der Wanderprediger mit ihrer Seele zur Hölle galoppierte. Wobei sich ein Teil von ihr fragte, ob sie durch eine solche Tat nicht erst recht zur Hölle fahren würde.
Einen Augenblick lang sahen sie sich ratlos an.
»Und jetzt?«, fragte Sue.
»Wo haben Sie Ihren Jeep?«
»Steht vorm Laden.«
»Na dann los!«
»Wohin?«
»Wer eine Maus fangen will, muss denken wie eine Maus. Wer einen schrulligen Priester zur Strecke bringen will, der seit zweihundert Jahren tot ist und es nicht wahrhaben will, der muss versuchen, so zu denken wie er. Wenn ich der Wanderprediger wäre, würde ich mich auf in die Berge machen.«
»In die Berge? Sie meinen zum Verlorenen Joch?«
»Ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen, an dem sich eine arme Seele verlieren könnte.«
»Stimmt. Ist näher am Himmel.«
»Drehen Sie mal das Schild an der Tür um und ich mach die Kasse zu. Wenn ich heute Nacht sterbe, dann will ich nicht, dass irgend so ein Yankee-Anwalt mein schönes Kleingeld als Teil meines Nachlasses verwaltet.«
»Sie sind eine Frau ganz nach meinem Herzen«, sagte Sue.
»Außer, dass ich keins habe.«
41. KAPITEL
Ray werkelte gerade an seinem Massey Ferguson herum, als er sah, wie eine Ziege über seine Wiese hoppelte. Sie humpelte, als ob sie sich das Knie verletzt oder sich einen Dorn zwischen den Hufen eingezogen hatte. Die Ziege lief zwischen den riesigen Heuballen hindurch, die noch grün und feucht waren. Ray musste an die kopflosen Ziegen denken, die er auf dem Feld gefunden hatte. Er hatte sie hinter seinen Brombeersträuchern begraben. Das Loch hatte er mit dem Traktor ausgehoben. Die Köpfe waren nicht aufgetaucht.
Der Wanderprediger würde also heute Nacht unterwegs sein, dachte Ray. Nachdem Harmon Smith gestern Abend im Gemischtwarenladen aufgetaucht war, hatte Ray das Gefühl, dass der Priester mit ihnen spielte. Wahrscheinlich wollte er ihnen zeigen, dass er jeden von ihnen jederzeit holen konnte. Ray hatte keine große Angst vorm Sterben. Mit der Religion hatte er abgeschlossen, und die Primitiven Baptisten glaubten eh nicht daran, dass man das vorbestimmte Schicksal in irgendeiner Weise abwenden könnte.
Sein jüngerer Bruder David hatte keine Anstalten gemacht, Ray zur Kirche zurückzubringen. David war schon immer der große Redner in der Familie gewesen. Er konnte sogar vor der Grundschule schon lesen. Ray hingegen hatte im letzten Schuljahr seine Ausbildung abgebrochen. Interessiert hatte ihn eigentlich immer nur die Kfz-Technik. David hatte seinen Collegeabschluss gemacht. Trotzdem war David heute nichts weiter als ein besserer Rasenmähermann, während Ray mit seinem Bagger selbstständig war. Aber die Gemeinde hatte dennoch David zu ihrem Kirchenältesten gewählt.
Die Kirche trug eine Mitschuld am Tod von Harmon Smith. Das war nichts, worauf die Primitiven Baptisten von Rush Branch stolz waren oder wofür sie sich schämten, sondern es war einfach so. So wie die lahme Ziege, die sich zwischen den Heuballen herumtrollte. In Schlangenlinien bewegte sie sich auf den Zaun zu. Ray legte sein Werkzeug nieder und wischte sich die Hände ab.
Er sah, wie die Ziege gegen den Zaun lief. Ihr linkes Vorderbein war verdreht, als ob der Knochen gebrochen wäre. Ziegen waren bekannt dafür, dass sie überall ausbrachen. So wie diese hier aussah, musste sie einen ziemlich abenteuerlichen Ausbruch hinter sich haben. Dennoch dürfte sie keinerlei Chance haben, über einen einmeterzwanzig hohen Maschendrahtzaun zu kommen, über dem nochmal zwei Reihen Stacheldraht lagen.
Trotzdem stellte sich die Ziege auf die Hinterbeine, legte ihr gebrochenes Bein auf den Maschendraht
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