Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Mähne aus den Augen, als nickte sie zustimmend.
Da hörte er plötzlich ein Klacken, wie wenn Holz auf Stein schlägt. Oder wie Hufgetrappel.
»Sie haben einen langen Weg auf sich genommen«, sagte eine Stimme zwischen den spärlichen Bäumen. »Suche, und du wirst finden. Klopfe an, und die Tür wird geöffnet.« »Ich habe tatsächlich einen Wunsch«, sagte Odus in die Richtung, aus der die Stimme kam. Die kalte, tiefe Stimme des Wanderpredigers würde er wohl niemals vergessen. Hier draußen schien sie noch mehr zu hallen als im Gemischtwarenladen. »Ich will, dass das hier vorbei ist. Ich will, dass es mit Ihnen vorbei ist.«
» Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen .«
»Die Menschen, die heute hier leben, haben nichts damit zu tun, was damals mit Ihnen geschah. Warum gehen Sie nicht einfach und lassen uns in Ruhe?«
»Ich verlange nach Barmherzigkeit, nicht nach Opfern.«
Ein unsichtbares Pferd wieherte. Die Lorbeerblätter erzitterten und teilten sich, dann trat das Pferd zwischen den Sträuchern hervor. Es war schwarz, mit leuchtend weißer Brust, genau wie in den Geschichten, und einen guten Kopf größer als Sister Mary, die beim Anblick des anderen Pferdes nervös mit den Ohren wackelte. Der Wanderprediger saß aufrecht im Sattel, den Kopf nach unten geneigt. Selbst wenn man ihn so von unten ansah, konnte man seine Gesichtszüge nur schwerlich ausmachen. Die untergehende Sonne stand dem Wanderprediger im Rücken. Der Himmel war in ein tiefes Violett getaucht, auf dem rosa Streifenwölkchen flatterten. Die Schatten der Bäume schienen aus dem Boden zu wachsen und den Mann auf dem Pferd zu umhüllen.
Sollte das jetzt der Showdown sein, den Odus so herbeigesehnt hatte? Vielleicht sollte er auf Sister Mary aufspringen, in einem wilden Höllenritt auf den toten Priester lospreschen und sich direkt mit ihm anlegen. Hätte er eine Waffe mitgenommen, dann würde er ihn jetzt wahrscheinlich wie in einem billigen Western niederstrecken.
Odus hatte sich darauf verlassen, dass ihm auf dem Weg schon der richtige Ansatz einfallen würde. Dabei hatte er allerdings vergessen, dass der Wanderprediger nach seinen eigenen Regeln lebte. Odus las zwar nicht gerne Bücher, aber er bezweifelte stark, dass es so etwas wie eine Bedienungsanleitung zum Töten eines Fabelwesens gab. Selbst wenn ihn dieses Wesen mit einer zerklüfteten Kauleiste unter seiner breiten Hutkrempe angrinste.
»Wir haben Sie nicht ungebracht«, sagte Odus.
»Sie gehören zu Solom. Das ist Grund genug.«
»Es ist nicht der Ort, der gesündigt hat. Es waren eine Handvoll Pfarrer, die Sie umgebracht haben. Zumindest so, wie ich es gehört habe. Und die sind schon lange tot. Sie haben ihr Urteil erhalten, und zwar vor Ihm, der die Macht über uns alle hat.«
Der Wanderprediger hob den Kopf, und Odus erkannte das kantige Kinn der Smiths. Seine versteckten Augen begannen plötzlich zu flackern, wie das Holz in einem Lagerfeuer, wenn ein Windstoß hineinfährt. »Denkt ihr etwa, ich drehe diese Runden gern? Denkt ihr, ich habe eine Wahl? Habt ihr vielleicht schon mal daran gedacht, dass etwas Anderes die Macht über mich hat? Denn in der Bibel steh t: Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei .«
Odus griff nach den herabhängenden Zügeln, um Sister Mary im Zaum zu halten. Die Schecke wollte zurücktänzeln, doch das Gelände war uneben und gefährlich. Vom Wanderprediger wehte ein widerlicher Gestank herüber, wie von einem toten Faultier. Doch ein frischer Windstoß wischte ihn fort, so dass nur noch der intensive Duft grüner Kiefernnadeln und der erdige Geruch abgestorbenen Laubs in der Luft hingen.
»Ich bin gekommen, um Sie aufzuhalten«, sagte Odus.
»Ich wünschte, Sie könnten es«, entgegnete der Wanderprediger und tätschelte mit seinen blassen Händen seinem Pferd den Hals. »Das Tor, das zum Leben führt, ist eng, und der Weg dorthin schmal. Nur wenige finden ihn.«
»Warum steigen Sie nicht einfach ab und lassen es laufen?«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich eine Aufgabe habe. Ich habe nicht darum gebeten. Sie wurde mir aufgetragen.«
»Ich glaube nicht an den Teufel.«
»Ich auch nicht, Odus Hampton.« Der Wanderprediger lehnte sich zur Seite und spuckte aus, als ob er sich des bitteren Staubes aus zweihundert Jahren Herumirren auf verschlungenen Pfaden entledigen wollte. »Ich kannte Ihren Vater. Ein guter Mann. Im Sommer
Weitere Kostenlose Bücher