Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
’77 hätte ich ihn holen können, als er oben auf der Leiter stand und die Dachrinnen am Haus der Smiths reinigte.«
»Er arbeitete für Gordons Vater.«
»Und Sie arbeiten für Gordon. Manche Dinge ändern sich in Solom eben nie.«
»Eine Sache wird sich aber ändern.«
»Nicht heute Nacht. Nicht hier und jetzt, nicht zwischen uns beiden.«
»Ich fürchte schon.« Odus’ Kehle war trocken, doch er würde es nicht zulassen, dass seine Stimme brach oder Schwäche zeigte.
»Wer, glauben Sie, hat Sie heute hierher geführt? Erzählen Sie mir nicht, dass Sie heute Morgen aufgewacht sind und es Ihnen einfach so in den Kopf schoss, ein Pferd zu stehlen und hoch aufs Verlorene Joch zu reiten.«
»Ich habe mich natürlich im Voraus informiert.«
»Genau das ist euer Problem. Ihr denkt alle, dass ihr der Herr über eure Arme und Beine und Gedanken seid. Ihr denkt, eure Seele lebt ein Eigenleben und ist getrennt von eurem Fleisch. Und ich bin hier, euch eines Besseren zu belehren.«
»Sie klingen genauso wie Kirchenältester David und seine Primitiven Baptisten.«
»Kirchenältester David ist ein guter Mann, aber leider nicht gut genug. Sein Glaube ist schwach.«
Die Kälte, die in Odus’ Glieder kroch, hatte nur wenig mit den sinkenden Temperaturen des sterbenden Tages zu tun. Der Himmel wurde dunkler und die Schatten, die Harmon Smith umgaben, verblassten. Als ob er die Dunkelheit in sich aufsaugte. Jetzt war mehr von seinem Gesicht zu erkennen. Die Haut über seinen Kiefern sah aus wie bröckelndes Wachs. Old Saint hatte während des gesamten Gesprächs stocksteif dagestanden. Sister Mary hingegen hatte mit den Hufen gescharrt und immer wieder nervös geschnaubt. Odus musste daran denken, dass es vielleicht auch Vorteile hatte, wenn man tot war. Zumindest tat einem beim Reiten der Hintern nicht weh.
»Nun, ich habe Sie gefunden, also muss es auch einen Grund dafür geben, oder?« Odus hatte ein unbändiges Verlangen nach einem kräftigen Schluck Whiskey. Doch dann fragte er sich, ob dieses Verlangen von ihm selbst ausging oder vielleicht doch eher einer Laune des bärtigen Gesellen hoch oben in den Wolken entsprang. Er konnte mit Religion nicht viel anfangen, doch wie die meisten armen Sünder, die sonst keine Hoffnung hatten, klammerte er sich immer dann daran, wenn die Religion das einzige Seil war, an dem man aus einem dunklen Loch herausklettern konnte.
»Sie sind nichts Besonderes, nur etwas früh dran«, sagte der Wanderprediger.
Odus war verwirrt. Vielleicht war es das Beste, er redete einfach mit dem toten Priester, bis ihm etwas eingefallen war. »Haben Sie die beiden Touristen am Switchback Trail auf dem Gewissen? Sie töten doch sonst immer nur einen und ziehen dann weiter Ihrer Wege. So ist es immer gewesen, so lange sich die Leute hier erinnern können.«
»Es geht nicht darum, was ihr wollt oder was ich will. Wenn es nach mir ginge, würde ich mich morgens einfach von Old Saint in den Bergnebel tragen lassen und dann wäre es gut.«
»Aber Sie sind böse. Wie kann ein Diener Gottes nur herumziehen und andere töten?« Odus hielt Ausschau nach einem heruntergefallenen Ast oder einen losen Stein. Wie dumm von ihm, kein Gewehr mitzubringen! Doch er war sich immer noch nicht sicher, was für eine Waffe gegen den Wanderprediger etwas ausrichten könnte. Denn er war auf einer Mission des Glaubens, auch wenn sich der Priester darüber lustig machte.
Der Wanderprediger fuhr mit seinem krummen, ausgemergelten Finger über ein Loch in seiner Jacke. »Der Talar ist wie Fleisch. Er wird von den Würmern zerfressen. Was nicht stirbt, ist der Geist.«
Der Wanderprediger hob seinen Kopf und schaute durch eine Öffnung im Blätterdach nach oben. Seine Mundwinkel kräuselten sich. Das Blatt einer Buche segelte vor seinem Gesicht zu Boden. Im Wald war es still. Vögel, Tiere und Pflanzen hatten Schichtwechsel gehabt. Die tagaktiven Tiere hatten sich in ihre Löcher, Nester und schützenden Astnischen zurückgezogen, während die Nachttiere aus ihrem Schlummer erwachten.
Von unten herauf zerriss ein fernes Rauschen die Stille, als ob jemand mit einem Stock in ein Hornissennest gestochen hätte. Harmon Smiths aufgerissene Lippen bogen sich leicht nach oben, wie bei einer Schlange mit gebrochenem Rückgrat. Auf einem menschlichen Gesicht wäre das wohl so etwas wie ein Lächeln gewesen.
»Die anderen scheinen dieselbe Idee gehabt zu haben wie Sie«, meinte er. »Schon komisch. Man stellt sie vor eine Wahl,
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