Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
und zog sich hoch. Mit dem anderen Bein fand das Tier Halt am Drahtzaun, mit den Hinterbeinen versuchte es hochzuklettern. Das verdammte Vieh – dem riesigen Hodensack nach zu urteilen, der zwischen seinen Beinen baumelte, musste es ein Bock sein – kletterte über den Zaun wie ein geisteskranker Affe! Es legte seinen Schädel auf die obere Reihe Stacheldraht, so dass ihm das Fleisch aufriss. An seinem dreckigweißen Hals tropfte Blut herab.
Dann hangelte der Bock mit den Beinen immer höher, bis er bäuchlings auf dem oberen Stacheldraht lag. Die Dornen mussten seinen Bauch aufschlitzen, doch das Tier gab keinen einzigen Klagelaut von sich. Stattdessen machte es weiter, als hätte es eine wichtige Mission zu erfüllen, und zappelte so lange, bis es mit seinem gesamten Gewicht auf der anderen Seite des Zaunes auf den Boden plumpste. Dort stand es nun auf wackeligen Beinen und schaute Ray aus rot unterlaufenen Augen an. Konnten Ziegen eigentlich Tollwut haben?
Ray schaute in seine Werkzeugkiste und zog eine verrostete Rohrzange heraus. Einen halben Meter lang und mindestens vier Kilo schwer. Ray schwang die Zange in seiner Hand, um ein Gefühl für ihr Gewicht zu kriegen.
Der Ziegenbock griff ihn nicht an. Er stellte sein kaputtes Bein auf den Boden und machte einen unbeholfenen Schritt nach vorn, dann noch einen. Aus seinem aufgerissenen Bauch tropfte das Blut. Er lief vorbei am Kartoffelacker, hinein in den Wald. Hoch zu den felsigen Hängen am Verlorenen Joch.
Ray wartete, bis der Bock an der Stelle vorbei war, an der er die toten Ziegen begraben hatte. Dann lief er dem Bock nach, in einem Abstand von etwa zehn Metern. Es war nicht schwer, der Spur zu folgen. Überall waren rote Blutstropfen neben gespaltenen Hufspuren und der kleinen Furche, die das verkrüppelte Bein gezogen hatte. Der Bock lief direkt auf den Gipfel des Verlorenen Jochs zu, zu den gewundenen Pfaden von Snakeberry Trail. Dort, wo der Wanderprediger damals für seine Sünden bezahlen musste.
In der Bibel stand, ein starker Wille könne Berge versetzen. Doch dieser Berg gehörte hierher. Er buckelte sich über Solom wie der schwarze Wachhund Gottes. Und auch der Wanderprediger gehörte zu Solom, ebenso wie die Steine und Quellen und Lorbeerbüsche. Dort oben konnte Ray Harmon Smith ins Gesicht spucken und Gott beweisen, dass er und nicht David der Auserwählte sein sollte.
Doch es war besser, wenn man hierfür einen Zeugen hatte. Sein Brüderchen würde bestimmt in der Kirche stecken. Sicher lag er wieder einmal auf den Knien und flehte Gott an, ihn von dem Bösen zu erlösen, das Gott nur aus einem einzigen Grund geschickt hatte: um die Schwachen auf die Probe zu stellen.
Als Ray zu seinem Auto ging, merkte er gar nicht, dass er die Rohrzange noch immer in der Hand hielt, und ihm war auch nicht bewusst, dass die Dunkelheit schon ihre Finger über dem Tal ausstreckte.
42. KAPITEL
Auf dem Kamm angekommen, stieg Odus ab und ließ Sister Mary an vertrocknetem Ruhrkraut knabbern. Dann ließ er seinen Blick über die Granitbrocken und Krüppelkiefern schweifen. Der Weg war immer schmaler und rauer geworden. Sonst waren hier wohl eher Füchse, Schwarzbären und Rehe unterwegs.
Dennoch musste Harmon Smith hier entlanggekommen sein, wenn er hinunter nach Virginia oder Ost-Tennessee wollte.
An den anderen Hängen des Verlorenen Jochs war der Aufstieg vom Tal weniger steil, doch diese waren etwa zehn Meilen weit weg. Für ein Auto war das keine weite Entfernung. Der Highway umging alle großen Erhebungen. Aber als Harmon Smith durch die Gegend zog, gab es noch keine Highways. Und auch heute noch folgte er dem Echo dieser längst vergangenen Zeit.
Odus hatte eigentlich erwartet, dass er irgendeine Spur finden würde – einen Hufabdruck oder einen abgebrochenen Ast, oder vielleicht ein Zeichen von Old Saint. Doch bisher war ihm nichts weiter begegnet als raschelnde Blätter, Laubbäume, die unter saurem Regen und Schädlingen litten, und die kalte Septemberluft in rund 1400 Metern Höhe. Ein paar Raben waren vor ihm aufgeschreckt, und ein Rotschwanzbussard hatte am strahlendblauen Himmel einen Bogen gezogen, bevor er sich auf ein unglückliches Nagetier stürzte. Ansonsten war im Wald alles still gewesen. Also nahm Odus noch einen Schluck aus der Whiskeyflasche, auf das ihm Old Crow die Zunge wärme.
»Sieht aus, als ob das hier ein sinnloses Unterfangen war«, meinte er zu seinem Pferd. Sister Mary schüttelte sich die
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