Solom: Der Wanderprediger (German Edition)
Kälte der Nacht an ihnen festbiss.
»Vielleicht bin ich jetzt an der Reihe«, fuhr Ray fort. »Beim ersten Mal hat Gott mich ausgelassen, weil Er diese Aufgabe für mich hatte. Das wäre auch eine Erklärung für die Vogelscheuche und die kopflosen Ziegen. Das waren Zeichen, und ich war zu blind, sie zu erkennen. Er hat mich gemeint, Davey-Boy. Mich hat er gemeint! «
David fühlte sich völlig fertig und geschlagen, so wie damals, als er mit fünf ins Bett gepinkelt hatte. David musste im Doppelstockbett immer unten schlafen. Nicht etwa, weil Ray älter und damit ranghöher war als er, sondern weil von oben immer die Gefahr bestanden hätte, dass die Pisse von seiner Plastikunterlage auf das Bett unter ihm tropfen könnte. Ray hatte gemerkt, dass David gerade in der Stimmung war, zu allem Ja und Amen zu sagen, weil er der Wahrheit ins Auge geblickt hatte. David war nicht gut genug gewesen, und das hieß nichts Anderes, als dass Ray jetzt wieder das Zepter in der Hand hatte. Er konnte es kaum bis zum nächsten Sonntag abwarten, wenn David seinen Rücktritt bekannt geben und Ray als Sieger bei der Wahl des neuen Kirchenältesten hervorgehen würde.
Ältester. Dieses Wort sagte doch eigentlich schon alles. Es würde der Gemeinde sicherlich nicht schaden, wenn sie ihm für ihre damalige Fehlentscheidung ein bisschen zu Kreuze kriechen würde. Schließlich warnte die Bibel praktisch auf jeder Seite vor Arroganz, Stolz und Heuchelei.
Ray schaute durch die Windschutzscheibe und nahm einen blassen Schimmer auf dem Bergkamm war, weniger als eine halbe Meile von der Kirche entfernt. Dort oben ging er immer auf Jagd nach wilden Truthähnen, einer der am schwersten fassbaren Kreaturen, die Gott je auf diese Erde gesetzt hatte. Der Lichtschein dort oben stammte nicht nur vom Mondlicht, das sich an den Felsen brach. Der Lichtkegel kam direkt vom Himmel. Er beleuchtete die Bühne, auf der Ray seinem Schicksal begegnen würde. Und David würde sein Zeuge sein.
»Jetzt ist der Weg klar«, sagte Ray. »Eng ist das Tor und schmal der Weg. Aber der Holzfällerpfad hoch zum Verlorenen Joch ist so breit wie Mary Lou Slaters gespreizte Beine.« Er stieß seinen Bruder gegen die Schulter. »Und du bist live mit dabei, wie an dem Tag, als wir die Kirschen von den Bäumen geballert haben, weißt du noch, Davey-Boy?«
Ray hörte nicht, ob David etwas antwortete, denn der Motor röhrte ohrenbetäubend, als er ansprang.
48. KAPITEL
Sarah richtete die Schrotflinte auf den Wanderprediger, der im Schneidersitz auf der Granitplatte saß wie ein dicker Buddha. Vor dem toten Prediger lagen vier Dutzend Ziegen und starrten still in die gleißenden Scheinwerfer des Jeeps. Das war vielleicht das Gruseligste an der ganzen Szene. Die Augen des Wanderpredigers strahlten gelb im Lichterschein. Unter der breiten Krempe seines schwarzen Hutes waren das wächserne Gesicht und die ausgemergelten Wangen zu sehen, und unter seiner langen, schmalen Nase kräuselte sich sein Lachen wie eine Schlange. Das Schlimmste aber waren die Ziegen. Denn Ziegen waren eigentlich niemals still. Normalerweise nibbelten und knabberten und kletterten und stampften sie herum, und vor allem kauten sie immer auf irgendetwas. Doch vor Harmon Smith hatten sie sich ausgebreitet, als ständen sie unter Drogen. So als ob sie sich auf einen ausgiebigen Schlummer vorbereiteten. Selbst die Zicklein lagen völlig ruhig und entspannt da und wackelten kaum mit den Ohren.
Old Saint war an einem Baum am Rande der Lichtung festgebunden. Es war das erste Mal, dass Sarah das Fabelwesen zu Gesicht bekam. Ein mächtiges Stück Pferdefleisch, falls man hier überhaupt von Fleisch sprechen konnte. Auch wenn er vielleicht schon ein paar hundert Jahre im Grab hinter sich hatte, so sah er doch so stark und mächtig aus wie die alte Eiche, an der er festgebunden war. Das Pferd knabberte das Moos vom Stamm, in aller Seelenruhe, als hätte es die Predigt schon gehört, die Harmon Smith gleich halten würde.
Sue saß hinter dem Lenkrad ihres Jeeps, geschockt von dem Anblick, der sie beim Befahren der Lichtung begrüßt hatte. Odus, dem es gelungen war, Sister Mary an ihre Tugenden zu erinnern, saß links neben dem Jeep auf dem Pferd. Der junge Mann mit Pfeil und Bogen stand auf der anderen Seite der Lichtung. Wahrscheinlich war er auf einem anderen Weg zum Gipfel heraufgekommen.
Sarah erkannte ihn, er war ein paar Mal bei ihr im Laden gewesen, hatte aber immer nur Billigwaren wie
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