Someone like you - Dessen, S: Someone like you
man ihren Wagen starten und im Rückwärtsgang die Auffahrt hinunterfahren. Durch das Fenster über Scarletts Bett konnte ich meine eigene Mutter sehen. Sie saß in der Hollywoodschaukel auf unserer Veranda, trank Kaffee und las Zeitung. Als Marion an ihr vorbeifuhr, schenkte sie ihr das für Nachbarn reservierte künstliche Lächeln. Und las weiter.
»Krass«, meinte Scarlett unvermittelt und zog ein dunkelblaues Kleid mit weißem Kragen aus dem Schrank. »Ich habe kein einziges Teil, das zum Anlass passt.«
»Du kannst meinen Zwölfjährigenfummel anziehen«, schlug ich vor. Sie schnitt eine Grimasse.
»Wetten, dass Marion etwas Passendes hat?«, sagte Scarlett und verließ das Zimmer, noch bevor sie den Satz vollendet hatte. Marions Kleiderschrank war Legende. Sie |42| war ein echter Shoppingfreak, machte jede Mode mit und konnte gleichzeitig nichts wegwerfen – eine fatale Kombi.
Ich stellte das Radio an, das neben dem Bett stand, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Mein halbes Leben hatte ich in Scarletts Zimmer verbracht, auf dem Bett ausgestreckt, einen Stapel
Seventeen
, unserer Lieblings-Teeniezeitschrift, zwischen uns; wir suchten uns die Kleider aus, die wir auf unserem Highschool-Abschlussball tragen würden, und lasen Artikel mit Titeln wie
Nie wieder Pickel
oder
Probleme mit deinem Freund?
Unter dem Fenster befand sich ein Regalbrett, auf dem Scarletts gerahmte Fotos standen: wir beide am Strand vor zwei Jahren, mit identischen Matrosenmützen auf dem Kopf; fröhlich salutierten wir vor meinem Vater, dem Fotografen des Bildes. Dann Marion mit achtzehn, ein ausgeblichenes, verknittertes Schulporträt. Und schließlich – am Ende des Regals, direkt neben Scarletts Bett und nicht gerahmt – das Foto von ihr und Michael am See, das im Spiegelrahmen gesteckt hatte, als ich zum Mädelscamp aufgebrochen war. Scarlett hatte es vom Spiegel weggeholt und dort an die Wand gelehnt, damit es in Reichweite war.
Ich fühlte, wie sich etwas Hartes in meinen Rücken drückte, und langte hinter mich, um es wegzunehmen. Es war ein Stiefel mit dicker Sohle, der sich allerdings nicht rührte, sosehr ich auch daran zog. Ich rutschte ein wenig zur Seite, zerrte erneut kräftig daran. Seit wann besaß Scarlett überhaupt diese Art Wanderstiefel? Ich wollte gerade den Mund aufmachen und die Frage zu ihr ins Nebenzimmer brüllen, da zerrte der Stiefel auf einmal zurück, mindestens so kräftig wie ich selbst, und auf dem Bett entstand eine heftige Bewegung. Eine wahre Bewegungsexplosion. Arme und Beine ruderten wie wild durch die Gegend, |43| Sachen flogen über die Bettkante, als sich jemand aus dem Chaos schälte, Zeitschriften, Decken, Kissen in alle Richtungen von sich abschüttelte. Unvermittelt sah ich mich Macon Faulkner gegenüber.
Er blickte sich im Zimmer um, als wäre er sich nicht sicher, wo er eigentlich war. Sein blondes Haar war über den Ohren rattenkurz geschnitten und voller Wirbel, die spitz von seinem Kopf abstanden; in einem Ohr steckten drei kleine Silberringe.
»Wa-?«, brachte er so gerade eben hervor und richtete sich blinzelnd auf. Er war völlig in Decken und Laken verheddert, eines hatte sich um seinen Arm gewickelt wie eine Boa Constrictor. »Wo ist Scarlett?«
»Da unten«, antwortete ich unwillkürlich und zeigte auf die Tür, als wäre dort »unten«, was natürlich nicht stimmte.
In dem Versuch, wach zu werden, schüttelte er mehrmals den Kopf. Wenn urplötzlich Elvis oder Mahatma Gandhi in Scarletts Bett aufgetaucht wären – ich wäre genauso geschockt gewesen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass sie Macon Faulkner überhaupt kannte. Selbstverständlich wussten wir alle,
wer
er war, denn er war in der ganzen Nachbarschaft bekannt wie ein bunter Hund. Sein Ruf eilte ihm voraus – und zwar kein allzu guter.
Was trieb er überhaupt in ihrem Bett? Das bedeutete doch nicht etwa . . .? Nein. Das hätte sie mir erzählt. Scarlett erzählte mir alles. Außerdem hatte Marion erwähnt, dass Scarlett auf dem Sofa genächtigt habe.
»Ich glaube, das hier könnte ich ganz gut anziehen«, meinte Scarlett, während sie den Flur entlang zu ihrem Zimmer zurückkam, ein schwarzes Kleid über dem Arm. Sie sah erst Macon an, dann mich, bevor sie kommentarlos |44| zu ihrem Kleiderschrank ging. Als wäre es das Normalste auf der Welt, um zehn Uhr morgens an einem Donnerstag einen fremden Jungen in ihrem Bett zu beherbergen.
Macon legte sich wieder hin und bedeckte seine Augen mit einer Hand.
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