Someone like you - Dessen, S: Someone like you
auch noch große Sorgen um meine Großmutter Halley machen: Sie ging uns allmählich verloren.
Im Grunde hatte es bereits vor Monaten, im Frühling, begonnen. Sie wurde immer vergesslicher, verwechselte mich mit meiner Mutter, nannte mich Julie, wusste kaum noch, wie sie selbst hieß. Dauernd schloss sie sich aus oder verlegte ihre Schlüssel. Meine Mutter redete mit Engelszungen auf sie ein, bis sie sich endlich darauf einließ, ihre Schlüssel an einem Band um den Hals zu tragen. Doch auch das nützte nichts, sie verlor ihn trotzdem immer wieder. Die Schlüssel lösten sich gleichsam in Luft auf, verschwanden in irgendwelchen Ritzen und Spalten, an Straßenecken, auf Bürgersteigen.
Es wurde immer schlimmer. Einmal vergaß sie im Papierwarengeschäft eine Geburtstagskarte zu bezahlen; als sie den Laden verlassen wollte, löste sie den Diebstahlsalarm aus und erschrak sich zu Tode. Sie fing an mitten in der Nacht aufgeregt, beinahe hysterisch, bei uns anzurufen: Wo wir denn blieben? Wir hätten doch versprochen an dem Tag zu kommen. Oder am Tag davor. Dabei war nichts dergleichen verabredet worden. Wenn sie in diesem |181| Zustand anrief, klang sie richtig verrückt, fast geistesgestört, was mir Angst machte. Schnell reichte ich dann den Hörer an meine Mutter weiter, die beim Telefonieren nervös in der Küche auf und ab ging und ihrer eigenen Mutter versicherte, alles sei in Ordnung, uns gehe es gut, es gebe keinen Grund, sich irgendwelche Sorgen zu machen. Doch während der Oktober sich seinem Ende zuneigte, waren wir uns dessen allmählich nicht mehr so sicher.
Ich hatte zu meiner Oma Halley stets ein sehr enges Verhältnis gehabt. Weil ich so hieß wie sie, war sie in meinen Augen automatisch etwas Besonderes. Als ich kleiner war, hatte ich mehrmals die Sommerferien bei ihr verbracht, während meine Eltern verreisten. Sie wohnte, nur in Gesellschaft eines dicken fetten Katers namens Jasper, in der Nähe von Buffalo in einem winzigen viktorianischen Haus mit einem Zier-Buntglasfenster. An diesem Fenster, in dem engen, verwinkelten Treppenhaus, hing eine Glocke, die mit Draht am Fenstersturz befestigt war. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeilief, berührte ich die Glocke; ihr Ton hallte von der Fensterscheibe und den Treppenhauswänden wider. Wenn ich den Namen meiner Großmutter hörte, kam mir als Erstes diese Glocke in den Sinn, noch vor ihrem Gesicht oder ihrer Stimme.
Meine Mutter hatte ihre strahlenden Augen von meiner Oma Halley geerbt, ihr kleines Kinn und ihr melodiöses Lachen; aber das hörte man nur, wenn man beide gut kannte, denn meine Mutter lachte längst nicht immer so. Außerdem war meine Oma Halley wilder und verrückter als meine Mutter, fast ein bisschen exzentrisch – seit dem Tod meines Großvaters vor zehn Jahren sogar in noch stär kerem Maß. Wenn sie im Garten arbeitete, trug sie einen Blaumann und einen Schlapphut. Sie konstruierte ihre |182| Vogelscheuchen selbst, und zwar mit Vorliebe so, dass sie unliebsamen Nachbarn ähnelten, vor allem Mr Farrow, der zwei Häuser weiter wohnte. Mr Farrow mit seinen Hasenzähnen und seinem karottenroten Haar gab aber auch tatsächlich ein ausgezeichnetes Vogelscheuchenmodell ab. Oma Halley aß nur Sachen aus dem Bioladen, hatte zwanzig Patenschaften für Kinder aus der Dritten Welt übernommen und brachte mir mit elf die ersten Grundschritte für Standardtänze bei, so dass wir zwei zur Musik aus ihrem knisternden, alten Grammofon durchs Wohnzimmer schweben konnten.
Sie wurde im Mai 1910 geboren, als der Halley’sche Komet den Himmel über der kleinen Stadt in Virginia, aus der sie stammte, erleuchtete. Ihr Vater stand in einer Menschenmenge auf dem Rasen vor dem Krankenhaus, um das Himmelsschauspiel zu beobachten; da es für ihn ein gutes Zeichen war, dass seine Tochter ausgerechnet in dieser Nacht geboren wurde, nannte er sie nach dem Kometen Halley. Und der Komet machte meine Großmutter tatsächlich zu etwas Besonderem. Sie war irgendwie geheimnisvoll. Als besäße sie magische Kräfte. Und weil ich nach ihr benannt worden war, hatte der Name auch mich ein wenig verzaubert, meinem Leben etwas Magisches verliehen. Jedenfalls hoffte ich das.
Als ich sechs war, fuhren wir extra nach Buffalo, um den Kometen mit ihr zusammen zu sehen. Es war Winter; ich weiß noch, dass ich, in eine Decke gewickelt, draußen auf ihrem Schoß saß. In den Tagen zuvor hatte man ein ungeheures Aufhebens wegen des Kometen gemacht. Überall herrschte große
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