Somers, Jeff - Avery Cates 02 - Die digitale Seuche
den Ausschreitungen am heißesten hergegangen war. Der Stadtkern selbst hatte nur wenig durchmachen müssen – zumindest, bis alle Mönche, die aus London geflohen waren, Paris erreicht hatten und zu dem Schluss gekommen waren, sich hier niederlassen zu müssen.
Wir kämpften uns durch frisch gewuchertes Unterholz bis zu einer breiten Straßen vor, die in etwa von Nordwesten nach Südosten führte: Der ganze Fahrbahnbelag hatte überall tiefe Risse. Die meisten der alten Verkehrsschilder waren umgestürzt. Kleine rote Quadrate mit der Aufschrift ›A4‹ hingen schlaff an verrosteten Bolzen oder waren in den zerschmetterten Asphalt hineingerammt wie Fliesen. Die Sonne brannte auf uns herab, und der schlammige Fluss, der aussah, als bestehe er aus Durchfall, befand sich zu unserer Linken: Ruhig wälzte ersieh zwischen den beiden Ufern entlang. Hier war es eigentlich nicht viel wärmer als in New York, aber der eigentümlich klare freie Himmel ließ alles sonderbar wirken. Es war komisch, aus dem verschneiten, schmierigen New York in diese Art der trockenen Hitze zu kommen. Man wusste wirklich nie, was als Nächstes kam.
Immer noch setzte mir diese Stille zu, und auch die Luft roch sonderbar nach gar nichts -als hätte man den Wind eigens für uns sterilisiert. Nirgends war Rauch zu riechen, auch nicht der säuerliche Geruch des Entsetzens oder der Uringestank zorniger Menschen. Es fühlte sich an, als würden wir mitten durchs Nichts marschieren.
Hense stapfte weiter, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Hin und wieder gab ihr Marko eine Richtung vor. Der Techie ortete die Nanobot-Signale, die wir alle in jeder Sekunde absetzten, und so konnte der Colonel sich stets vergewissern, noch auf dem richtigen Weg zu sein. Sie blickte uns nicht an, tastete nicht nervös nach ihrer Waffe, schien nicht einmal zu schwitzen.
Als der Fluss etwas nach Westen verlief, sah ich, dass vor uns ein großes Gebäude aufragte. Die Straße stieg ein wenig an und erreichte dann in einer weitläufigen Kurve ein ganzes Gewirr aus Wegen. Wir mussten erst ein Stück weit hinauf- und dann wieder hinuntergehen, um das Flussufer zu erreichen. Das Ufer, so hatte Marko behauptet, sei für uns am interessantesten. Hense ging einfach weiter, völlig davon überzeugt, so vermutete ich zumindest, Happling könne sowohl mich als auch den Techie in Schach halten. Happling grinste zumindest immer noch wild und hielt in seinen Händen dieses Monster-Gewehr, das mit einem einzigen Feuerstoß eine Person mühelos in Stücke reißen konnte. Also lag der Colonel völlig richtig. Denn ich hatte nicht die Absicht, es darauf anzulegen, Happling zusätzlich zu verärgern. Ich legte einfach nur die Hand auf das rostige staubige Geländer und schwang mich hinüber, biss mir auf die Zunge, um nicht vor Schmerzen aufzuschreien oder auch nur zu grunzen, und sprang so geschickt auf das Pflaster hinab, wie ich das eben hinbekam. Als Happling uns folgte, glaubte ich tatsächlich zu spüren, wie bei seinem Aufprall der Boden bebte.
Das Gebäude in der Ferne entpuppte sich als gewaltiger Steinbau, von dessen Seiten spinnenartig Arme ausgingen. Anscheinend hatten sie die Aufgabe, die Seitenwände des Gebäudes aufrecht zu halten. Ein hoher schmaler Kirchturm ragte genau in der Mitte auf, zu beiden Seiten gesäumt von zwei weiteren Türmen. Als wir näher kamen, wurde deutlich, dass dieses Gebäude auf einer kleinen Insel stand, die ein Stück weit vor dem östlichen Flussufer lag. Früher einmal hatte man sie über Brücken erreichen können, von denen jetzt nur noch Trümmer aus Stein und verbogenem Metall verblieben waren. Ringsherum bestand Paris vor allem aus niedrigen, gedrungen wirkenden Häusern. Viele von ihnen waren bereits völlig zerstört; einige wenige jedoch noch in bemerkenswert gutem Zustand. Dennoch war nichts am Horizont ähnlich hoch oder beeindruckend wie dieses Steinding genau voraus.
Ich wusste die Antwort auf meine Frage schon, bevor ich sie stellte. »He, Marko«, rief ich, »wohin gehen wir denn eigentlich?«
Mit dem Kinn deutete er auf die kleine Insel. »Zur Kirche. Von dem Ding geht ein ganzer Wirbelsturm Funksignale aus!«
Wir kamen bis an das Flussufer und blieben mitten in den Trümmern einer alten Brücke stehen. Wie Zahnstümpfe ragten die alten Stützpfeiler aus dem Wasser. Eine halb eingestürzte Mauer umgab das Eiland, und einen Moment lang starrten wir alle es nur an, dachten darüber nach, wie schwer es wohl sein würde,
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