Sommer der Entscheidung
sind so viele verschiedene Stoffe“, sagte Tessa. „Woher hattest du die?“
„Er ist wie eine echte Familienbibel, dieser Quilt. Ich habe viele Jahre daran gearbeitet, mal an dieser Ecke, mal an jener. Einige Flicken stammen aus alten Kleidern, von mir, der Familie oder von Freunden. Wahrscheinlich sind das diejenigen Stücke, die am stärksten gelitten haben. Manchmal haben wir auch untereinander Stücke getauscht. Ich gebe dir einen Flicken, ich bekomme einen von deinen. Ich wollte, dass jeder Teil anders aussieht. Deswegen hat es so lange gedauert. Damals hatten wir das Geld nicht, um einfach in einen Laden zu gehen und das zu kaufen, was uns gefiel. Hier in dieser Gegend hatte niemand Geld.“
„Was war damit? Mit den Kleidern und den Futtersäcken? Wie war das, als du diesen Quilt genäht hast?“ Tessa sah auf. „Ich möchte mehr darüber erfahren, Gram. Über dein Leben.“
„Warum?“ Helen runzelte die Stirn. „Was interessiert es dich? Das ist schon lange her. Von damals lebt heutzutage niemand mehr. Ich könnte dir einiges über die Kleider und die Leute erzählen, mit denen ich Stoffe getauscht habe. Darüber …“ Sie deutete mit dem Finger auf einen Flicken. „Das gehörte einmal meiner Mama. Es ist ein Stück aus ihrer Lieblingsschürze. Das war der allererste Flicken, mit dem ich angefangen habe.“ Sie deutete auf ein anderes Stück Stoff. „Der Teil dort, der stammt aus dem Hochzeitskleid meiner Oma. Aber was schert es dich? Du hast sie nie gekannt.“
Tessa machte kein Aufhebens oder versuchte sie umzustimmen. „Dein Fernseher funktioniert in den seltensten Fällen. Es ist noch früh. Ich habe keine Lust, immer zu lesen.“
Helen war darauf vorbereitet, sich zu weigern, auf Tessas Wunsch einzugehen. Was sollte sie ihrer vorlauten Tochter und ihrer leidenden Enkelin schon erzählen? Sie war nur einealte Frau, deren Leben in ihren Augen keine große Bedeutung hatte. Aber es lag etwas in Tessas Bitte, die sie aus dem Stegreif geäußert hatte, etwas, das an Helen nagte und das sie dazu veranlasste, noch einmal nachzudenken.
„Ich könnte euch ein wenig erzählen. Aber nur, wenn ihr noch ein Gläschen Wein von letztens habt. Wenn ich schon reden muss, dann wäre ein Glas nicht schlecht. Das erinnert mich an den Wein, den mein Papa immer im Frühling aus Löwenzahn gemacht hat. Nur, dass seiner so süß war, dass es an den Zähnen wehtat.“
Tessa reckte und dehnte sich einen Moment lang. „Setzt ihr euch nur schon hin. Ich bin gleich zurück.“ Sie verließ das Zimmer.
„Du bist immer noch hier?“, fragte Helen ihre Tochter. „Ich habe versucht, dir von deinen Großeltern und so zu erzählen, als du hier gewohnt hast. Damals war es dir egal, und wahrscheinlich willst du es jetzt auch nicht hören.“
Nancy lehnte sich vor, und das Lächeln, das Helen nie ganz durchschauen konnte, verschwand. „Du bist vielleicht eine alte, böse Frau, weißt du das? Mein ganzes Leben lang hast du mich so behandelt. Ich habe nie gesagt, dass ich mich nicht für meine eigene Familie interessiere. Ich wollte nur nicht noch einmal hören, dass sie viel besser waren, als ich je sein würde.“
Helen starrte sie an. „Das habe ich nie gesagt. Das denkst du dir aus.“
„Ich war dir nie gut genug, Mama.“
„Du verdrehst das. Ich war dir nie gut genug.“
Nancy lehnte sich in dem Zweisitzer zurück und verschränkte die Arme. „Das mögen wohl deine Erinnerungen sein, und es ist deine Sache, ob du sie erzählst oder nicht. Aber wenn du sie uns schon mitteilst, dann erinnere dich daran, dass es auch meine Familie ist. Und ich bleibe hier.“
Helens Auge zuckte. Für zweideutige Gefühle war in ihrem Leben kein Platz. Sie hatte so lange am Abgrund gelebt, dass sie schnelle Entschlüsse fassen und an ihnen festhalten musste, um nicht von Armut und Verzweiflung in die Tiefe gerissen zu werden. Aber sie hatte auch immer geahnt, dass schnelle Entschlüsse eine Gefahr bargen. Jetzt gerade saß solch eine Gefahr ihr gegenüber in diesem Raum.
„Ich habe nie behauptet, dass ich dir nichts von deiner Familie erzählen würde“, sagte sie. „Beweise es mir, und ich werde mich dafür entschuldigen.“
Nancy antwortete darauf nicht. Das war so ungewöhnlich für sie, dass Helen klar wurde, wie wichtig dieses Gespräch war. Sie versuchte, ihre innere Unruhe in Worten auszudrücken, aber sie fand keine.
„Es freut mich, dass du die Geschichten jetzt hören willst“, brachte sie endlich hervor.
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