Sommer der Entscheidung
erinnerst dich an alles, was ich jemals getan habe und was ich nicht hätte tun dürfen.“
„Allerdings“, gab Helen zu. „Ich vergesse so etwas nicht.“
„Und …“ Tessa lud sich Erbsen auf ihren Teller und reichte die Schüssel weiter, obwohl niemand mehr Platz auf dem Teller hatte. „Ich habe den Wedding-Ring-Quilt gefunden. Nicht auf Anhieb, aber fast.“
Helen war überrascht. Nicht, dass sie den Quilt direkt versteckt hätte, denn sie lebte ja allein in dem Haus. Und eine Frau konnte eine Sache wie einen Quilt nicht vor sich selbst verstecken. Aber sie hatte ihn irgendwo in der Tiefe vergraben und gehofft, dass er zu ihren Lebzeiten nicht mehr auftauchen würde. Und nun hatte Tessa ihn aufgespürt.
„Wie sieht er aus?“, fragte Nancy. „Ist die ganze Füllung schon aus meiner Decke herausgefallen?“
„Ich hatte keine Zeit, ihn mir genauer anzuschauen, ich dachte, das könnten wir nach dem Abendessen gemeinsam tun.“
Nancy und Tessa unterhielten sich über andere Dinge, aber Helen aß ohne ein weiteres Wort auf und war als Erste mit der Mahlzeit fertig. Sie trug ihren Teller zur Spüle und holte den Pie unter einer Arbeitsfläche hervor, wo er abkühlen sollte. Ohne zu fragen, schnitt sie drei große Stücke ab und tat sie auf Teller. Sie brachte sie zum Tisch, es folgte ein riesiger Topf Eiscreme und ein großer Servierlöffel. Keine der beiden Frauen lehnte ab.
Als sie mit dem Essen fertig waren, fühlten sie sich ein bisschen matt, sogar Helen. Sie musste zugeben, dass es nicht das Schlechteste war, gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin an einem Tisch zu sitzen. Es hatte ihr Freude bereitet, dass die beiden das Essen so genossen hatten. Und es war nett, jemanden zum Reden zu haben – auch wenn sie nicht allzu viel zu sagen hatte.
„Lasst uns doch den Quilt anschauen, danach wasche ich ab.“ Tessa stand auf und streckte sich. Helen bewunderte ihreleichte und schlanke Figur und wünschte einfach, die Spannung würde aus dem Gesicht ihrer Enkelin verschwinden und durch etwas ersetzt, das besser zu ihrer Gesundheit und inneren Stärke passte.
Sie gingen hintereinander in den Salon, weil die Wohnzimmermöbel mit Malerfolie abgedeckt waren und es dort immer noch nach Farbe roch. Der Salon war klein und hatte eigentlich keine Funktion für eine Farmerfamilie, die selten feinen Besuch bekam. Im Grunde war er nutzlos. Helens Mutter, Delilah, hatte das schon festgestellt. Als sie noch lebte, stand in dem Zimmer ein Quilt-Rahmen, so groß wie ein Webstuhl. Daneben passten gerade noch einige Stühle hinein, mehr nicht. Als Delilah noch die Herrin der Stoneburner Farm war, trafen sich die Nachbarinnen jeden Mittwochmorgen, um gemeinsam zu quilten. Die Fitch-Crossing-Hausfrauen-Gesellschaft.
„Hier ist es gemütlich. Es war mein Lieblingszimmer, als ich noch klein war“, erinnerte Tessa sich. „Immer, wenn wir zu Besuch waren, habe ich mich hierhin zurückgezogen, um zu lesen.“
Helen machte die Lampen an, die schon zur Zeit ihrer Mutter den Raum beleuchtet hatten. Delilah hatte immer Wert auf viel Licht gelegt, vor allem im Salon, weil sie davon überzeugt war, dass Nähen die Augen ruiniere. „Du warst verrückt nach Büchern. Nicht wie deine Tochter. Kayley rannte gern herum und spielte. Ich habe sie nie ohne einen Drachen oder einen Ball in der Hand gesehen.“
Es herrschte plötzlich Stille, wie immer, wenn Kayleys Name fiel. Dann sagte Nancy: „Tessa wäre auch ein Wildfang gewesen, wenn ich sie gelassen hätte. Aber ich hatte mir in den Kopf gesetzt, sie sollte eine kleine Lady sein.“
Helen schüttelte den Kopf. „Zu meiner Zeit hatte niemand Muße, sich über so etwas Gedanken zu machen. Jedermusste mit anpacken und sich die Hände schmutzig machen, und nicht beim Ballspielen, das kann ich euch sagen.“
„Das hört sich trübe an. Hattest du denn nie Spaß?“
„Das habe ich nicht behauptet, dass wir nie Spaß hatten.“
Helen ertappte sich dabei, dass sie lachte. Sie war selbst von dem Geräusch überrascht.
„ Keine der Aufgaben, die ich zu erledigen hatte, haben mir Spaß gemacht“, sagte Nancy.
Helen tat es leid, obwohl sie den Unterschied zwischen sich und Nancy verstand.
„Wir hatten mehr Spaß, als ihr euch vorstellen könnt. Wer hat gesagt, dass man nicht arbeiten und gleichzeitig Freude daran haben kann?“
Sie ließ sich auf einen Sessel nieder und machte es sich bequem. Nancy saß in dem verblichenen Zweisitzer, auf dem Tessa früher immer
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