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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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in Oak Hill. Aber sie konnte nur weiche Babynahrung zu sich nehmen, und man mußte ihr bei jedem Bissen den Mund auf- und zumachen. Das Schlucken schien mehr ein Hinunterwürgen zu sein. Unweigerlich landete mehr Essen auf dem Kinn seiner Großmutter und dem breiten Latz, den sie ihr um den Hals banden.
    Aber Mike erledigte seine Aufgabe geduldig und erzählte ihr dabei von Kleinigkeiten - wie er die Sonntagszeitung ausgetragen hatte, vom bevorstehenden Regen, dem Treiben seiner Schwestern -, während er ihr Löffel für Löffel einflößte.
    Plötzlich riß Memo die Augen auf und fing rasch an zu blinzeln; sie versuchte, ihm etwas mitzuteilen. Mike wünschte sich oft, sie und die Familie hätten vor ihrem Schlaganfall das Morsealphabet gelernt, aber wer hätte daran denken können, daß sie das je brauchen würden?
    Jetzt wäre es prima gewesen, da die alte Frau blinzelte, innehielt, wiederholt blinzelte, wieder innehielt.
    »Was ist denn, Memo?« flüsterte Mike, beugte sich näher und wischte das Kinn mit einer Serviette ab. Er sah über die Schulter und rechnete fast damit, eine dunkle Gestalt am Fenster zu sehen. Aber er erblickte nur Dunkelheit zwischen den Vorhängen, und dann ein Aufleuchten, das die Blätter der Linde und die Felder auf der anderen Straßenseite sichtbar machte. »Schon gut«, sagte Mike und hielt einen weiteren Löffel pürierte Karotten hoch.
    Es war ganz eindeutig nicht gut. Memos Blinzeln wurde aufgeregter, ihre Halsmuskeln arbeiteten so hektisch, daß Mike fürchtete, sie würde das Abendessen wieder hochwürgen. Er beugte sich über sie und vergewisserte sich, daß sie nicht erstickte, aber sie schien normal zu atmen. Das Blinzeln wurde zu einem panischen Stak-kato. Mike fragte sich, ob sie wieder einen Schlaganfall hatte, ob sie diesmal wirklich starb. Aber er rief nicht nach seinen Eltern. Die Ruhe vor dem Sturm hatte sich über sein Tun und seine Emotionen gesenkt und ihn auf den Stuhl gebannt, wo er sich mit ausgestrecktem Löffel über Memo beugte.
    Das Blinzeln hörte auf; Memos Augen wurden ganz groß. Gleichzeitig kratzte etwas an den Bodendielen des alten Hauses -Mike wußte, es befand sich ein Raum darunter, der kaum zum Kriechen ausreichte -, ein Kratzen, das unter dem Küchenboden und der südwestlichen Ecke des Hauses zu hören war und dann schneller als eine Katze oder ein Hund quer durch die Küche wuselte, durch eine Ecke des Wohnzimmers und ein Stück der Diele, unter dem Boden das Salons dahin - Memos Zimmer -, unter Mikes Füßen und dem massiven Messingbett, wo die alte Dame lag.
    Mike sah an seinem immer noch ausgestreckten Arm vorbei auf den fadenscheinigen Teppich zwischen seinen Turnschuhen. Das Kratzen war so laut, als wäre jemand mit einer Draisine unter das Haus gerollt und würde mit einem Messer oder einer Eisenstange überjede Unebenheit der alten Bodendielen streifen. Dann wurde es zu einem Pochen, einem Hacken, als würde dieselbe Klinge dazu benützt werden, ein Loch in die Dielen zwischen Mikes Füßen zu schlagen.
    Er sah mit offenem Mund nach unten und wartete darauf, daß das Ding durch die Dielen brechen würde, dachte an Finger mit Messerklingen, die durchkamen und sein Bein packten. Ein Blick zeigte ihm, Memo hatte die Augen nicht mehr aufgerissen, sondern so fest sie konnte zugekniffen.
    Dann hörte das Hacken unvermittelt auf. Mike konnte wieder sprechen. »Mom! Dad! Peg!« brüllte er, ohne richtig zu schreien. Die Hand, die den Löffel hielt, war immer noch ausgestreckt, zitterte jetzt aber.
    Sein Vater kam aus dem Bad auf der anderen Seite der Diele; seine Hosenträger hingen herunter, der gewaltige Bauch und das Unterhemd ragten weit über den Hosenbund hinaus. Seine Mutter kam aus dem Schlafzimmer und machte den alten Morgenmantel zu. Das Trampeln auf der Treppe war nicht Peg, sondern Mary, die sich um den Türrahmen beugte und in den Salon sah.
    Ein Bombardement an Fragen wurde ihm entgegengeschleudert. »Warum schreist du denn so?« wiederholte sein Vater in einer Pause.
    Mike sah von einem Gesicht zum anderen. »Habt ihr denn nichts gehört?«
    »Was gehört?« fragte seine Mutter mit ihrer Stimme, die immer schroffer klang als beabsichtigt.
    Mike betrachtete den Teppich zwischen seinen Turnschuhen. Er spürte, daß da was unten war. Es wartete. Er sah zu Memo. Sie hatte immer noch die Augen zugekniffen und den ganzen Körper verkrampft.
    »Ein Geräusch«, sagte Mike und merkte selbst, wie lahm sich seine Stimme anhörte. »Ein

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