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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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schlich.
    Mehrere Blocks östlich in der Depot Street saßen Dale und Lawrence eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Verandageländer und sahen, wie Wetterleuchten den dunklen Himmel erhellte. Ihre Eltern entspannten sich auf den Korbsesseln. Jedesmal, wenn ein stummer Blitz herniederzuckte, konnte man Old Central hinter der Abschirmung der Ulmen auf der anderen Straßenseite erkennen; das Stroboskoplicht färbte Mauerstein und Verputz elektrisierend blau. Es war still, der Wind, der der Gewitterfront vorausging, war noch nicht aufgekommen.
    »Ist irgendwie kein Tornadowetter«, sagte Dales Dad.
    Ihre Mutter trank Limonade und sagte nichts. Die Luft war schwül und vom aufziehenden Unwetter geschwängert. Jedesmal, wenn das Wetterleuchten die Schule, den Spielplatz und die Se-cond Avenue erhellte, die nach Süden zur Hard Road führte, zuckte sie ein wenig zusammen.
    Dale war fasziniert von den plötzlichen Explosionen des Lichts und den seltsamen Farben, die sie Gras, Häusern, Bäumen und dem Asphalt der Straße verliehen. Es war, als würden sie vor ihrem Sylvania Halolight-Schwarzweißfernseher sitzen, der plötzlich angefangen hatte, zumindest ab und zu, in Farbe zu erstrahlen.
    Das Wetterleuchten toste um den östlichen und südlichen Horizont und flackerte über den Baumwipfeln wie ein grelles Nordlicht. Dale erinnerte sich an Geschichte, die Onkel Henry von Artilleriefeuer im Ersten Weltkrieg erzählt hatte. Dales Dad hatte im letzten großen Krieg in Europa gedient, sprach aber nie darüber.
    »Sieh mal«, sagte Lawrence leise und deutete zum Schulhof.
    Dale bückte sich und sah da hin, wo der Arm seines Bruders hindeutete. Als das Wetterleuchten aufblitzte, konnte er die Furche über dem diamantförmigen Baseballfeld sehen. Seit die Schule aus war, hatte man mehrere solcher Furchen sehen können, als würde jemand Rohre verlegen. Aber weder Dale noch sonst jemand der Familie hatte tagsüber Arbeiter auf dem Gelände des Schulhofs gesehen. Warum sollte auch jemand Rohre zu einem Schulhaus verlegen, das sowieso eines Tages abgerissen werden würde?
    »Komm mit!« flüsterte Dale, worauf er und sein Bruder vom Geländer auf die Steintreppe und von der Steintreppe in den Vorgarten sprangen.
    »Geht nicht zu weit weg!« rief ihre Mutter. »Es wird gleich regnen.«
    »Nein, nein«, rief Dale über die Schulter. Sie liefen über die Depot Street, sprangen über die flachen, grasbewachsenen Gräben rechts und links, die im Stadtgebiet als Abwasserkanäle fungierten, und verschwanden unter den ausgestreckten Ästen des gigantischen Ulmenwächters, der auf der anderen Straßenseite gegenüber von ihrem Haus stand.
    Dale sah sich um und merkte zum erstenmal, was für eine solide Barriere die alten Ulmen bildeten. Es war einfach, zwischen ihnen hindurch auf den Spielplatz zu gehen, aber die Wirkung war so, als würde man durch eine Festungsmauer den Innenhof einer Burg betreten.
    Und an diesem Abend sah Old Central in jeder Hinsicht so düster wie eine Burg aus. Blitze flackerten und spiegelten sich in den Fenstern der hohen Gauben, die noch nicht zugenagelt worden waren. In diesem Licht sahen Stein und Mauerwerk seltsam grünlich aus. Der Bogen des Eingangs barg nur Dunkelheit.
    »Da«, sagte Lawrence. Er war sechs Schritte von der maulwurfsähnlichen Aufwerfung entfernt stehengeblieben, die sich quer durch den Spielplatz zog. Es war, als hätte jemand eine Pipeline von der Schule verlegt - Dale sah, wo die Aufwerfung am Backstein neben einem Kellerfenster anfing -, die genau durchs zweite Base zum Werferhügel führte. Aber auf halbem Weg über das Spielfeld hatten sie aufgehört.
    Dale drehte sich um und sah in die Richtung, die die Aufwerfung genommen hätte, wäre sie fortgesetzt worden. Er sah zu seiner eigenen, dreißig Meter entfernten Vorderveranda.
    Lawrence stieß einen Schrei aus und sprang zurück. Dale wirbelte herum.
    In einer kurzen Explosion von Licht vom Himmel konnte Dale beobachten, wie sich der Boden wölbte, Schollen hochgedrückt wurden - Rasen noch unversehrt - und die lange Linie aufgeworfener Erde vier Schritte länger wurde und weniger als einen Meter von seinen Turnschuhen entfernt aufhörte.
    Mike O'Rourke fütterte Memo, während Wetterleuchten vor dem Vorhang pulsierte. Es war nicht angenehm, die alte Dame zu füttern: Ihr Hals und das Verdauungssystem funktionierten noch richtig, andernfalls hätten sie sich nicht zu Hause um sie kümmern können, und sie wäre im Pflegeheim

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