Sommer der Nacht
man damit jemand in den Bauch schießen sollte.
Er sprang hinunter, fand einen Hebel und zog daran, damit er in den Zylinder sehen konnte ... er würde sie todsicher nicht herumdrehen, so daß die Mündung in sein Gesicht zeigte. Das eine Loch, das er sehen konnte, war leer. Er brauchte noch eine Minute, bis er herausgefunden hatte, wie er den Zylinder frei drehen konnte; alle Löcher waren leer. Harlen fluchte, steckte den Revolver in den Gürtel - spürte den kalten Stahl an der warmen Haut seines Bauchs - und suchte auf dem restlichen Regal nach den Kugeln. Nichts. Wahrscheinlich hatte Ma sie alle weggeworfen. Er räumte das Fach auf, stellte den Stuhl zurück, nahm die Waffe mit hinaus, stand da und betrachtete sie.
Was sollte das verdammte Ding nützen, wenn er keine Kugeln hatte?
Er sah noch einmal unter Mas Bett nach, durchsuchte das ganze Zimmer und stöberte sogar den Plunder in der Zedernholztruhe durch. Keine Kugeln. Er war sicher, daß sie in einem Karton gewesen waren.
Harlen überprüfte ein letztes Mal, daß er keine verräterischen Spuren seiner Suche hinterlassen hatte - in dem Durcheinander im Zimmer war das schwer zu sagen -und ging nach unten.
Verdammt, wo kann ich Kugeln kaufen? Verkaufen sie die an Kinder? Könnte ich einfach in Meyers Eisenwarenladen oder Jensens A & P gehen und nach Patronen Kaliber .38 fragen? Harlen glaubte nicht, daß das A & P welche führte, und Mr. Meyers konnte ihn nicht ausstehen; er hätte sich fast geweigert, ihm Nägel zu verkaufen, als er letzten Sommer an seinem Baumhaus gearbeitet hatte... Kugeln würde er ihm auf gar keinen Fall verkaufen.
Harlen kam ein letzter Einfall. Seine Ma bewahrte jede Menge Fusel in der Hausbar auf, aber sie hatte immer eine Flasche auf dem letzten Regal in der Küche ganz oben versteckt. Als könnte jemand die anderen Vorräte stehlen und sie die versteckte Reserve brauchen. Da oben standen noch andere Flaschen und Krempel.
Harlen stand am Tresen und hatte beim Suchen den stupsnasigen Revolver in der bandagierten Linken. Zwei Flaschen Wodka waren da oben versteckt. Eine Art Einmachglas voll Reis, ein anderes mit Erbsen, wie es aussah. Vom dritten Glas ging ein metallisches Glitzern aus. Harlen hielt es ans Licht.
Die Kugeln waren alle in das Einmachglas geworfen worden. Der Deckel war zugeschraubt. Harlen zählte mindestens dreißig. Er holte ein Messer, schnitt die Versiegelung des Deckels durch, schraubte ihn auf und ließ die Kugeln auf den Tisch kullern. Er war aufgeregter als damals, als er zum ersten Mal C. J.s Porno-heftchen nach Hause gebracht hatte. Harlen brauchte nur wenige Augenblicke, bis er herausgefunden hatte, wie man die leeren Kammern lud und dann den Zylinder drehte, um sich zu vergewissern, daß er voll geladen war. Er steckte die restlichen Patronen in die Jeanstaschen, stellte das Glas an seinen Platz zurück, ging hinten raus, kletterte über den Zaun und ging auf der Suche nach einem Platz zum Üben in den Wald.
Und nach etwas zum Üben.
Memo war wach. Manchmal hatte sie die Augen offen, bekam aber wenig mit. Jetzt nicht. Mike kauerte sich neben ihrem Bett nieder. Seine Mutter war zu Hause - es war Sonntag, der 10. Juli, die erste Sonntagsmesse seit fast drei Jahren, die Mike versäumte -, der Staubsauger lief jetzt oben in seinem Zimmer. Mike beugte sich dichter ans Bett und sah, wie Memos braune Augen seinen Bewegungen folgten. Eine ihrer Hände lag verkrümmt wie eine Klaue auf der Bettdecke, die Finger knotig, der Handrücken von blauen Venen durchzogen.
»Kannst du mich hören, Memo?« flüsterte er mit dem Mund nahe an ihrem Ohr. Er lehnte sich zurück und sah ihr in die Augen.
Blinzel. Ja. Der Code war einmal für ja, zweimal für nein, dreimal für >ich weiß nicht< oder >ich verstehe nicht<. So vermittelten sie ihr die einfachsten Dinge: wenn es Zeit war, das Bettzeug oder die Wäsche zu wechseln, Zeit für die Bettpfanne - solche Sachen.
»Memo«, flüsterte Mike, dessen Lippen nach vier Tagen Fieber noch trocken und rissig waren, »hast du den Soldaten am Fenster auch gesehen?«
Blinzel. Ja.
»Hast du ihn schon einmal gesehen?«
Ja.
»Hast du Angst vor ihm?«
Ja.
»Glaubst du, er will uns etwas zuleide tun?«
Ja.
»Glaubst du immer noch, daß er der Tod ist?«
Blinzel. Blinzel. Blinzel. Ich weiß nicht.
Mike holte Luft. Die Last seiner Fieberträume hing wie mit Ketten an ihm. »Kommt er dir ... bekannt vor?«
Ja.
»Jemand, den du kennst?«
Ja.
»Jemand, den Mom und Dad auch
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