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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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kennen könnten?«
    Nein.
    »Würde ich ihn kennen?«
    Nein.
    »Aber du?«
    Memo machte lange die Augen zu, wie unter Schmerzen oder Anstrengung. Mike kam sich wie ein Idiot vor, aber er wußte nicht, was er fragen sollte. Ja. Sie kannte ihn eindeutig.
    »Jemand ... der noch lebt?«
    Nein.
    Das überraschte Mike nicht. »Also jemand, der tot ist?«
    Ja.
    »Aber ein richtiger Mensch. Ich meine, jemand, der einmal gelebt hat?«
    Ja.
    »Glaubst du... glaubst du, er ist ein Gespenst, Memo?«
    Dreimal Blinzeln. Eine Pause. Dann einmal.
    »Hast du und Großpapa ihn gekannt?«
    Pause. Ja.
    »Ein Freund?«
    Sie blinzelte überhaupt nicht. Ihre dunklen Augen brannten sich in Mikes Blick und forderten, daß er die richtigen Fragen stellte.
    »Ein Freund von Großpapa?«
    Nein.
    »Ein Feind von Großpapa?«
    Sie zögerte. Blinzelte einmal. Ihr Mund und Kinn waren feucht von Speichel. Mike benützte das Leinentaschentuch auf ihrem Nachttisch und trocknete sie ab. »Also war er ein Feind von Großpapa und dir?«
    Nein.
    Mike war sicher, daß sie zweimal geblinzelt hatte, aber er verstand nicht, warum. Gerade hatte sie gesagt ...
    »Ein Feind von Großpapa«, flüsterte er. Oben war der Staubsauger verstummt, aber er konnte seine Mutter summen hören, als sie in den Zimmern der Mädchen abstaubte. »Ein Feind von Großpapa, aber nicht von dir?«
    Ja.
    »Der Soldat war dein Freund?«
    Ja.
    Mike wippte auf den Absätzen. Prima, und was nun? Wie konnte er herausfinden, wer dieser Mann war und warum er Memo heimsuchte?
    »Weißt du, warum er zurückgekommen ist, Memo?«
    Nein.
    »Aber du hast Angst vor ihm?« Mike wußte, das war eine dumme Frage.
    Ja. Pause. Ja. Pause. Ja.
    »Hast du Angst vor ihm gehabt, als .. .als er noch gelebt hat?«
    Ja.
    »Kann ich irgendwie herausfinden, wer er war?«
    Ja. Ja.
    Mike stand auf und ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. Draußen fuhr ein Auto die First Avenue entlang. Der Geruch von Blumen und frisch gemähtem Gras drang durch das Fliegengitter. Mike überlegte mit einem Anflug von Schuldgefühlen, daß sein Vater den Rasen gemäht haben mußte, als er krank war. Er kauerte sich wieder neben Memo. »Memo, kann ich mir deine Sachen ansehen? Macht es dir etwas aus, wenn ich deine Sachen durchsehe?« Mike merkte, daß er die Frage so formuliert hatte, daß sie nicht antworten konnte. Sie sah ihn wartend an.
    »Habe ich deine Erlaubnis?« flüsterte er.
    Ja.
    Memos Truhe stand in der Ecke. Alle Kinder hatten den strengen Befehl, sich nicht daran zu vergreifen: Die Sachen darin waren die kostbarsten und privatesten Dinge ihrer Großmutter, und Mikes Mutter verwahrte sie, als könnte die alte Dame sie eines Tages wieder benützen.
    Mike wühlte sich durch die Kleidungsstücke, bis er zu einem Bündel Briefe kam, die meisten von seinem Großvater während seiner Verkaufsreisen durch den Bundesstaat.
    »Hier drinnen, Memo?«
    Nein.
    Eine Schachtel mit Fotos war auch darin; die meisten davon sepiafarben. Mike hielt sie hoch.
    Ja.
    Er blätterte sie rasch durch, weil er hörte, daß seine Mom mit den Zimmern der Mädchen fertig war und nur noch seines hatte. Er sollte im Wohnzimmer ausruhen, während sie das Zimmer lüftete und das Bett frisch bezog.
    Es mußten hundert Bilder in der Schachtel sein: ovale Porträts von Verwandten und unbekannte Gesichter, Brownie-Schnappschüsse ihres Opas, als er noch jung, groß und stark war -Opa vor seinem Pierce Arrow, Opa stolz zusammen mit zwei anderen Männern vor dem Zigarrengeschäft, das ihnen eine kurze -und ruinöse - Zeit in Oak Hill gehört hatte, Opa und Memo bei der Weltausstellung in Chicago, Familienbilder, Bilder von Picknicks und Ferien und Augenblicken der Muße auf der Veranda, ein Foto eines Kindes in Weiß, das anschneinend in Seidenkissen schlief -dann stellte Mike betroffen fest, daß es Dads Zwillingsbruder war, der kurz nach der Geburt starb - das Foto war aufgenommen worden, nachdem das Baby gestorben war. Was für ein schecklicher Brauch!
    Mike blätterte die Bilder schneller durch. Fotos von Memo als älterer Dame - Opa, der Hufeisen warf, ein Familienfoto mit Mike als Baby, auf dem die älteren Mädchen in die Kamera grinsten, noch mehr alte Bilder...
    Mike stieß einen langen Seufzer aus. Er legte die anderen Fotos in die Schachtel zurück und hielt das auf Pappe aufgezogene Bild auf Armeslänge von sich, als wäre es verseucht. Der Soldat sah ihm stolz entgegen. Dieselbe Khakiuniform, dieselben Wickelgamaschen - wie Duane sie immer

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