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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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essen. Er ging zum Kühlschrank, aber der einzige Milchkarton, der dort war, stand schon lange, lange darin, und Harlen hatte nicht die Absicht, ihn aufzumachen. Er füllte Wasser aus dem Hahn in ein leeres Marmeladeglas. »Du hast recht, Ma. Aber ich War froh, dich zu sehen, als du nach Hause gekommen bist.«
    Ihr plötzlich starrer Rücken verriet ihm, daß es besser war, dieses Thema nicht weiter zu verfolgen. »Wolltest du heute nicht in Adelle's Salon dein Haar richten lassen?«
    »Ich nehme an, wenn ich das mache, wirst du diesen Polizisten wieder rufen und Anklage gegen mich erheben, weil ich eine pflichtvergessene Mutter bin«, sagte sie mit einer Stimme voll Sarkasmus, wie Dale sie nicht mehr gehört hatte, seit Dad gegangen war. Der Rauch stieg über ihren dunklen Haarschopf und fing das Sonnenlicht als blasser Heiligenschein.
    »Ma«, sagte er, »es ist Tag. Bei Tag habe ich vor nichts Angst. Bei Tag wird sie nicht zurückkommen.« Harlen wußte, eigentlich war nur die erste Behauptung wirklich zutreffend. Die zweite war eine Lüge. Die dritte - das wußte er nicht.
    Ma strich sich über das Haar und drückte die Zigarette im Spülbecken aus. »Na gut, ich bin in einer Stunde zurück, vielleicht etwas mehr. Du hast Adelles Nummer?«
    »Ja.«
    Er spülte den Suppenteller aus und stellte ihn zum Frühstücksgeschirr. Der Nash vollführte seinen gewohnten Lärm, als er die Depot Street hinunter verschwand. Harlen wartete noch zwei Minuten - Ma vergaß häufig etwas und kam zurückgehastet, um danach zu suchen -, aber als er sicher war, sie war fort, ging er langsam in ihr Zimmer hinauf. Sein Herz schlug wie verrückt.
    Heute morgen, als Ma noch geschlafen hatte, hatte er Laken und Kissenbezug in der Badewanne gewaschen und sie danach in die Waschmaschine in der Waschküche geworfen. Den Pyjama hatte er in den Mülleimer neben der Garage geworfen. Darin würde er auf gar keinen Fall noch einmal schlafen.
    Er durchsuchte die Schubladen seiner Ma, kramte unter ihrer Spitzenunterwäsche und spürte dieselbe Erregung wie damals, als er zum erstenmal ein Heftchen von C. J. gekauft und nach Hause gebracht hatte. Es war heiß in dem Zimmer. Grelles Sonnenlicht fiel auf das zerwühlte Laken und die Decke von Mas Bett; er konnte ihr durchdringendes Parfüm riechen. Die Sonntagszeitung hatte sie verstreut auf dem Bett liegenlassen.
    Der Revolver war nicht in der Schublade. Harlen sah im Nachttisch neben ihrem Bett nach, wobei er leere Zigarettenpackungen und ein fast volles Päckchen Kondome beiseite schieben mußte. Ringe, Kugelschreiber, die nicht mehr funktionierten, Streichholz-briefchen verschiedener Restaurants und Nachtklubs, Papierschnipsel und Servietten mit daraufgekritzelten Männernamen, eine Art mechanischer Muskelentspanner, ein Taschenbuch. Keine Waffe.
    Harlen setzte sich aufs Bett und sah sich im Zimmer um. Im Schrank waren nur ihre Schuhe, Kleider und... Moment mal! Er zog einen Stuhl hin, damit er auf dem einzigen Regalboden ganz nach hinten greifen konnte, und tastete hinter Hutschachteln und alten Pullovern. Seine Hand spürte kaltes Metall. Er zog ein gerahmtes Foto heraus. Sein Dad lächelte und hatte einen Arm um Ma und den anderen um einen grinsenden, dummen Vierjährigen, in dem Harlen vage sich selbst erkannte.
    Dem Jungen fehlte ein Schneidezahn, was ihn aber nicht zu stören schien, denn er grinste breit. Die drei standen vor einem Picknicktisch; Harlen erkannte den Bandstand Park in der Stadt. Vielleicht war das vor einer Gratisvorstellung gewesen.
    Er warf das Bild aufs Bett und tastete unter dem letzten Pullover da oben. Ein geschwungener Griff, Abzugsbügel aus Metall.
    Er holte ihn langsam und mit beiden Händen herunter, wobei er sorgsam darauf achtete, daß sein Finger nicht in die Nähe des Abzugs kam. Das Ding war überraschend schwer für seine Größe. Die Metallteile bestanden aus dunkelblauem Stahl; der Lauf war erstaunlich kurz, rund fünf Zentimeter nur. Der Griff bestand aus einem hübschen, polierten Holz. Sah ganz wie die Spielzeugach-tund-dreißiger aus, mit der Harlen gespielt hatte, als er noch klein war, so vor einem oder zwei Jahren, und er vermutete, dies war eine richtige Achtunddreißiger. Wie hatte sein Dad sie genannt, als er Ma vor Jahren gezeigt hatte, wie man sie halten mußte? Eine Bauchwaffe. Harlen war nicht sicher, ob der Name daher kam, daß sie so klein war, daß man sie in den Gürtel stecken konnte - natürlich nur, wenn man ein Mann war -, oder weil

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