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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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sobald er sich kräftig genug fühlte, die Jeans anzuziehen und nach unten zu gehen, würde er es machen.
    Den ganzen nächsten Tag, Sonntag den Zehnten, war Harlens Mutter wütend auf ihn, als hätte er sie angeschrien, und nicht Barney und Dr. Staffhey. Im Haus herrschte die stille Gereiztheit, die Harlen von den Streits seiner Mutter und seines Vaters nur zu gut kannte: eine oder zwei Stunden anschreien, danach drei Wochen kaltes Schweigen. Das war Harlen scheißegal. Wenn sie nicht zu Hause blieb, wenn sie nicht zwischen ihm und dem Gesicht am Fenster blieb, würde er den Constable jeden Abend rufen, damit er ihr gehörig die Leviten las.
    »Es ist ja nicht so, daß ich dich vernachlässigen würde«, hatte sie ihn angefahren, als er sich eine Dose Suppe zum Mittagessen gewärmt hatte. Es war das erstemal den ganzen Tag, daß sie ihn angesprochen hatte. »Weiß Gott, ich arbeite mir lange genug die Finger wund und versorge dich, versorge dieses Haus ...«
    Harlen sah ins Wohnzimmer. Die einzigen freien Oberflächen waren die, die er und die beiden Männer vergangenen Abend freigeräumt hatten. Barney hatte vergangene Nacht das Geschirr gespült, die blitzblanke Spüle kam Harlen direkt fremd vor.
    »Wag es nicht, mir mit diesem Ton zu kommen, junger Mann«, fauchte Ma.
    Harlen sah sie an. Er hatte kein Wort gesagt.
    »Du weißt, was ich meine. Diese beiden ... Eindringlinge ... kommen hier herein und maßen sich an, mir zu sagen, wie ich auf mein Kind aufzupassen habe. Vernachlässigung der Aufsichtspflicht hat er gesagt!« Ihre Stimme zitterte. Sie verstummte, um sich eine Zigarette anzuzünden, und ihre Hände zitterten ebenfalls. Sie wedelte das Streichholz aus, blies Rauch aus und klopfte mit den lackierten Nägeln auf den Tisch. Harlen betrachtete den Lippenstiftring um die Zigarette. Das - Lippenstift an Zigaretten überall im Haus - haßte er mehr als alles andere. Es machte ihn verrückt, und er hatte keine Ahnung, warum.
    »Schließlich«, fuhr sie dann mit beherrschterer Stimme fort, »bist du elf Jahre alt. Fast ein junger Mann. Als ich elf war, mußte ich mich um drei jüngere Kinder der Familie kümmern und habe noch halbtags im One Fifty One-Imbiß drüben in Princeville gearbeitet.«
    Harlen nickte. Die Geschichte hatte er schon oft genug gehört.
    Seine Mutter inhalierte Rauch und wandte sich ab, während die Finger ihrer linken Hand weiterhin einen erbosten Trommelwirbel auf dem Tisch klopften und die Zigarette aggressiv in der Art und Weise von der Hand abstand, wie nur eine Frau sie halten konnte. »Die haben vielleicht Nerven, diese beiden Idioten.«
    Harlen goß seine Tomatensuppe in einen Teller, fand einen Löffel, beugte sich darüber und ließ sie abkühlen. »Ma, sie waren nur hier, weil diese verrückte Frau im Haus war. Sie haben Angst gehabt, sie könnte zurückkommen.«
    Sie drehte sich nicht zu ihm um. Ihr Rücken hatte dieselbe starre Haltung, die er so oft Harlens Vater gegenüber eingenommen hatte.
    Er kostete die Suppe. Sie war zu heiß. »Wirklich, Ma«, sagte er. »Sie wollten nichts Böses. Sie haben nur ...«
    »Sag du mir nicht, was sie wollten, James Richard!« fauchte sie, drehte sich schließlich doch zu ihm um, hielt einen Arm vor sich und den anderen, von dem Rauch kräuselte, vertikal hoch. »Ich weiß, wenn man mich beleidigt. Sie haben natürlich nicht daran gedacht, daß du dir mit Sicherheit eingebildet hast, du hättest jemand durch das Fenster gesehen. Sie haben nicht gewußt, daß Dr. Ar-mitage im Krankenhaus gesagt hat, du hättest einen schlimmen Stoß am Kopf abbekommen... ein subdurales Hemmy ... Hemo ...«
    »Subdurales Hämatom«, sagte Harlen. Die Suppe war jetzt kalt genug.
    »Eine sehr ernste Gehirnerschütterung«, meinte sie und nahm einen Zug. »Dr. Armitage hat mich gewarnt, du könntest - wie sagt man doch gleich? - Halluzinationen haben. Ich meine, schließlich hast du ja niemand gesehen, den du kennst, oder? Jemand Richtigen.«
    Es gibt Menschen auf der Welt, die ich nicht kenne, war Harlen versucht zu antworten. Er ließ es bleiben. Einen Tag lang die kalte Schulter reichte aus. »Nn-nnn«, sagte er.
    Ma nickte, als wäre damit alles geklärt. Sie drehte sich um und sah zum Küchenfenster hinaus, während sie die Zigarette zu Ende rauchte. »Ich frage mich, wo diese hohen und allmächtigen Herren waren, als ich vierundzwanzig Stunden täglich an deinem Krankenbett verbracht habe«, murmelte sie.
    Harlen konzentrierte sich darauf, seine Suppe zu

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