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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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abklappen mußte, damit man jeweils eine Patrone laden konnte - Ia, um Ratten auf der Müllkippe zu schießen, wohin diese beide Ratten wahrscheinlich unterwegs gewesen waren -, und seine Fantasie zeigte ihm die Patrone Kaliber .22 am Ende des Laufs, wo sie nur darauf wartete, daß der Hammer herunterschnalzte und das Bleigeschoß durch Dales Zähne, Zunge, Gaumen und Gehirn jagte. Er versuchte sich zu erinnern, welchen Schaden eine .22er im Gehirn eines Tieres anrichten konnte, aber von den Belehrungen seines Dad während der Vorbereitungen zu einem gemeinsamen Jagdausflug fiel ihm nur noch ein, daß eine .22er-Lang eine Reichweite von einer Meile hatte.
    Dale kämpfte gegen den Drang, C. J. zu fragen, ob er das Gewehr mit einer Patrone .22-Lang geladen hatte.
    »Wie würde es dir denn gefallen, du Pißkopf?« sagte C. J. und sah am Lauf entlang, als wollte er genau aussuchen, durch welchen Zahn er feuern würde.
    Dale schüttelte wieder den Kopf. Er hatte die Arme herunterhängen und hielt es für einen prima Einfall, sie zu heben, aber irgendwie schienen sie sich nicht bewegen zu wollen.
    »Erschieß ihn! Erschieß ihn, C. J.!« Archies Stimme war heiser vor Aufregung oder Pubertät. »Mach den kleinen Wichser alle!«
    »Sei still«, sagte Congden. Er sah Dale mit zusammengekniffenen Augen an. »Du bist Stewart-Wichser, richtig?«
    Dale nickte. Seine Angst vor C. J. über die Jahre hinweg und seine Wut und Hilflosigkeit nach den Prügeln hatte ihn in eine so intime Beziehung zu dem Schläger gebracht, daß es ihm unvorstellbar erschien, daß Congden seinen Namen nicht kannte.
    C. J. sah ihn wieder verkniffen an. »Du wirst mir sagen, was du uns nachzuspionieren und anzugrinsen hast, verdammt, oder soll ich abdrücken?«
    Die Frage war im Augenblick zu kompliziert für Dale, und er schüttelte wieder den Kopf. Ihm schien, als wäre der wichtigste Teil, auf die Frage zu antworten, ob er wollte, daß abgedrückt wurde. Das wollte er nicht.
    »Okay, Arschgesicht, du hast es so gewollt«, sagte C. ]., der Dales Geste offenbar als Weigerung zu reden betrachtete. Er zog den Hammer der einschüssigen Flinte mit einem hörbaren Klick zurück und senkte die Wange an den Kolben.
    Dale hörte schlichtweg auf zu atmen. Seine Brust war erstarrt. Er wollte die Hände vors Gesicht heben, sah aber im Geiste, wie die Kugel seine Handflächen durchschlug, ehe sie in den Mund eindrang. Dale wurde zum erstenmal bewußt, was der Tod war: Er war, nicht auf den Eisenbahnschienen weiterzugehen, heute kein Abendessen zu sich zu nehmen, seine Mom nicht zu sehen und Sea Hunt im Fernsehen zu verpassen. Er war, am Samstag nicht den Rasen zu mähen oder seinem Dad im Herbst helfen dürfen, das Laub zusammenzurechen.
    Er war, überhaupt keine Wahl zu haben, außer tot auf dem Kieswall der Schienen zu liegen, wo einem die Vögel die Augen auspickten wie Beeren und Ameisen einem über die Zunge krabbelten. Er war keine Wahl, keine Entscheidungen, überhaupt keine Zukunft. Als hätte man für alle Ewigkeit Stubenarrest.
    »Tschüs«, sagte Congden.
    »Wenn du abdrückst, puste ich dir deine elende Rübe in Stücke«, sagte eine Stimme hinter Dale.
    Congden und Archie zuckten zusammen, als hätte sie jemand in einem dunklen Zimmer erschreckt. C. J. sah nach links, ließ das Gewehr aber nicht sinken.
    Dale, der immer noch nicht atmete, stellte fest, er konnte den Kopf ein klein wenig nach rechts drehen und sehen, wer da stand.
    Cordie Cooke war aus dem Wald gekommen und hatte einen Fuß noch im Unkraut, den anderen auf dem Schotterwall der Schienen stehen. Sie hatte die doppelläufige Schrotflinte hochgehoben, den Kolben fest an die Schulter gedrückt und beide Läufe auf C. J. Congden gerichtet.
    »Cooke, du kleine Fotze...«, begann Archie mit hoher, krächzender Stimme.
    »Sei still!« sagte C. J. Die Stimme des größeren Jungen war ruhig. »Was soll denn das werden, Cordie?«
    »Ich habe die Zwölfkalibrige meines Vaters auf deine Pickelvisage gerichtet, Dumpfbacke.« Cordies Stimme war dünn und kratzig wie immer - dürre Kreide auf altem Schiefer -, aber vollkommen unerbittlich.
    »Leg das Gewehr weg, Dummchen«, sagte C. J. »Das hier hat nichts mit dir zu tun.«
    »Leg du deins weg«, sagte Cordie. »Leg es weg und geh weiter!«
    C. J. sah sie wieder an, als würde er abschätzen, wie lange es dauern würde, den Lauf in ihre Richtung zu schwenken. In diesem Augenblick hoffte Dale, so dankbar er Cordie für ihr Eingreifen war, von ganzem

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