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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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wissen, wie es dir geht«, sagte er. »Mike und Dale und die anderen wollen dich auch besuchen kommen, wenn es dir besser geht.« »Ja, ja.« Harlens Stimme war gedämpft, weil er die Hand über die untere Gesichtshälfte hielt. Seine Finger tasteten nach den Verbänden.
    »Sie werden sich freuen, wenn sie hören, daß du auf dem Damm bist.« Duane sah zum Flur, wo wieder Schritte ertönten: wahrscheinlich Krankenhauspersonal, das von der Mittagspause zurückkam. »Können wir dir was bringen?«
    »Michelle Staffney nackt«, sagte Harlen, der die Hand nicht vom Gesicht nahm.
    »Klaro«, sagte Duane und ging zur Tür. Der Flur war momentan verlassen. »Wir seh'n uns später, Freund Pe-ter.« Der Ausdruck war der Renner unter den Jungs ge-wesen, als sie in der vierten Klasse waren.
    Harlen seufzte. »McBride?«
    »Ja.«
    »Eines könntest du machen.« Die Lautsprecheranlage auf dem Flur gab ein Pfeifen von sich. Vor dem Fenster ließ jemand einen Rasenmäher an. Duane wartete. »Mach das Licht an«, sagte Harlen. »Machst du das?«
    Duane blinzelte ins grelle Sonnenlicht, das ins Zimmer strömte, schaltete aber das Licht an. Die zusätzliche Helligkeit war im Gleißen nicht zu sehen.
    »Danke«, sagte Harlen.
    »Kannst du gut sehen, Jim?« Duanes Stimme war leise.
    »Doch. Ich kann gut sehen.« Harlen ließ die Hand sinken und sah Duane mit einem undeutbaren Gesichtsaus-druck an. »Es ist nur... nun... wenn ich wieder ein-schlafe, möchte ich nicht im Dunkeln aufwachen. Klar?«
    Duane nickte, wartete noch einen Augenblick, aber ihm fiel nichts mehr ein, was noch zu sagen wäre, daher winkte er Harlen zu, ging hinaus und schlich sich zu einem Nebenausgang.
    Dale Stewart sah am Gewehrlauf entlang in C. J. Cong-dens Pickelgesicht und dachte: Mein Gott, ich werde sterben. Das war eine neue Vorstellung, welche die Szene um ihn herum zu einem soliden Block von Eindrücken einzufrieren schien: Congdens, Archie Kreck, der warme Sonnenschein auf Dales Gesicht, der Schatten der Blätter und der blaue Himmel hinter C. J., das Hitzeflimmern, das von Schotter und Schienen aufstieg, der blaue Stahl des Gewehrlaufs und der schwache, aber irgendwie schwindelerregende Ölgeruch, der von der Waffe ausging - das alles trug dazu bei, den Augenblick so sicher in der Zeit zu versiegeln, wie Mikes Bernstein eine Spinne vor einer Million Jahren gefangen hatte.
    »Verdammt, ich hab' dich was gefragt, blödes Arschgesicht«, schnarrte C. J.
    Dale schien Congdens Stimme aus weiter, weiter Ferne zu hören. Sein Puls hämmerte ihm immer noch laut in den Ohren. Obwohl er fast seine gesamte Konzentration aufbieten mußte, nur um sich nicht der Ohnmacht zu ergeben, die ihn bedrohte, brachte Dale eine Antwort heraus: »Hä?«
    Congden lachte gehässig. »Ich habe gesagt: Verdammt, warum lachst du?« Er hob den Kolben des Gewehrs an die Schulter, ohne die Mündung einen Sekundenbruchteil von Dales Halsansatz zu nehmen.
    »Ich lächle nicht.« Dale hörte das Zittern seiner Stimme und war sich darüber im klaren, daß er sich dessen schämen sollte, aber auch das war weit entfernt. Sein Herz schien sich aus der Brust befreien zu wollen. Es schien, als würde sich die Erde neigen, daher mußte Dale sich darauf konzentrieren, das Gleichgewicht zu wahren.
    »Einen Scheißdreck machst du nicht!« schrie Archie Kreck. Der Schläger im zweiten Glied hatte ihm das Gesieht leicht im Profil zugewendet, und Dale konnte sehen, daß sein Glasauge etwas größer als das echte war.
    »Sei still«, sagte C. J. abwesend. Er hob den Lauf, so daß der Druck vom Hals Dales schwand - er konnte den Schmerz spüren, wo die Mündung gedrückt hatte, und wußte, dort war jetzt ein roter Ring -, und zielte direkt auf das Gesicht des kleineren Jungen. »Du grinst immer noch, Arschgesicht. Wie würde es dir gefallen, wenn ich ein Loch in dieses dämliche Grinsen pusten würde?«
    Dale schüttelte den Kopf, konnte aber nicht aufhören zu grinsen. Er spürte das Lächeln, ein Krampf, über den er keine Macht hatte. Sein rechtes Bein zitterte jetzt deutlich, seine Blase schien prall voll zu sein. Er konzentrierte sich darauf, das Gleichgewicht zu halten und sich nicht in die Hose zu machen.
    Die Gewehrmündung war zwanzig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Dale konnte nicht glauben, wie groß sie war. Die schwarze Öffnung schien den Himmel auszufüllen und das Sonnenlicht zu trüben; Dale erkannte, daß es sich ein Gewehr Kaliber .22 handelte, von der Art, wo man den Lauf

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