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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Herzen, daß C. J. wirklich auf sie anlegen würde. Alles war besser, als diese Mündung vor dem Gesicht zu haben.
    »Was liegt dir schon daran, ob ich diesen kleinen Wichser erschieße?« fragte C. J. im Plauderton. Die Mündung war immer noch zwanzig Zentimeter vor Dale.
    »Leg es weg, Congden!« Dale fand, daß sich Cordies Stimme ganz wie im Unterricht anhörte - bei den seltenen Anlässen, wenn sie etwas sagte: leise, unbeteiligt, leicht gelangweilt. »Leg es weg und zieh Leine! Du kannst es wieder holen, wenn ich weg bin. Ich rühr' es nicht an.«
    »Ich werde ihn erschießen, und dann dich, du blöde Fotze«, fauchte C. J. Jetzt war er wütend. Die Pusteln und Pickel auf seinem spitzen Gesicht pulsierten, dann wurden sie wieder rot.
    »Es ist eine einschüssige Remington, Congden«, sagte Cordie.
    Dale sah sie wieder an. Sie hatte den Finger um beide Abzüge der uralten Schrotflinte gelegt. Das Ding sah schwer und riesig aus, die Läufe verrostet, der Kolben durch das Alter rissig. Aber Dale zweifelte nicht daran, daß sie geladen war. Er überlegte sich am Rande, ob die Streuung der Schrotkugeln ihn auch erwischen würde, wenn sie C. J. den Kopf abrissen.
    »Dann erschieße ich dich zuerst«, knurrte C. J. Aber er drehte den Lauf nicht in ihre Richtung.
    Dale sah, wie sich die Muskeln der bloßen Oberarme des Kerls spannten, und merkte, daß Congden ebenso starr vor Angst war wie er selbst.
    »Schnapp sie dir, Archie!« befahl C. J.
    Kreck zögerte, drehte den Kopf, damit er mit seinem echten Auge die Situation abschätzen konnte, dann nickte er, griff in die weiten Jeans, holte ein Messer hervor, ließ die fünfzehn Zentimeter lange Klinge herausschnappen und schlurfte über die Gleise auf Cordie zu.
    »Wenn er über das zweite Gleis kommt, bist du Hackfleisch«, sagte sie zu Congden.
    »Stopp!« schrie C. J. Es war ein allgemeiner Befehl, fast ein Kreischen, aber Archie war derjenige, der stehenblieb. Er sah seinen Boß an und wartete auf weitere Befehle.
    »Zurück, der Teufel soll dich holen, du blödes Arschloch!« sagte C. J. zu seinem besten Freund.
    Archie zog sich hinter das erste Gleis zurück.
    Dale merkte, daß er wieder atmete. Die Zeit verging wieder -langsamer als normal, aber sie verging eindeutig -, und er fragte sich, was er machen sollte. Er hatte Hunderte Cowboy-Filme gesehen, in denen Sugarfoot oder Bronco Lane oder sonst jemand vor seinem Gewehr standen, das auf sie gerichtet war, so wie hier, und sie entwanden es dem Bösewicht immer. Es wäre ganz einfach: Der Lauf war immer noch zwanzig Zentimeter von Dales Gesicht entfernt, und Congdens ganze Aufmerksamkeit war jetzt auf Cordie gerichtet. Er müßte nur zupacken und drehen.
    Dale stellte fest, daß er leichter auf Luft gehen als sich in diesem Augenblick bewegen konnte.
    »Los doch!« sagte Cordie mit müder, monotoner Stimme. »Streng dein verblödetes Hirn an und entscheide dich! Mein Finger wird müde.«
    Die Wangenmuskeln von C. J. zuckten. Dale sah, wie Schweiß von Nase und Kinn des Schlägers troff.
    »Dir ist klar, daß ich dir das heimzahle, Cordie, ja? Du weißt, daß ich dir auflauere und was echt Schlimmes mit dir mache? Du weißt, damit kommst du nicht ungestraft davon.«
    Cordie schien die Achseln zu zucken, obwohl der Lauf nicht wankte. »Wenn du mir was antust und mich nicht dabei umbringst, C. J., dann bin ich hinter dir her, das weißt du auch. Ich komme mit Daddys Zwölfkalibriger hinter dir her. Letztes Jahr habe ich die Hunde auf Mr. Aleo gehetzt. Es macht mir nichts aus, dich umzubringen.«
    Dale kannte die Episode mit dem Musiklehrer und den Hunden. Alle in der Stadt kannten sie. Cordie war zehn Wochen der Schule verwiesen worden. Als sie wieder in die Schule gekommen war, war Mr. Aleo nach Chicago zurückgekehrt.
    »Hol dich der Teufel«, sagte C. J. und legte langsam und mit großer Sorgfalt das Gewehr auf eine der Schwellen. Er wich zurück. »Und du, Stewart, Arschgesicht Stewart, glaub nicht, daß ich dich vergesse.« C. J. wich weiter von dem Gewehr zurück und nickte Archie zu. Archie gesellte sich mit noch gezücktem Messer zu ihm, dann gingen beide rückwärts die Schienen entlang, drehten sich um, als sie das Unkraut erreicht hatten, und verschwanden rasch zwischen den Bäumen.
    Dale stand noch einen Moment lang da und betrachtete das Gewehr zu seinen Füßen, als würde es in die Höhe schweben und ihn wieder bedrohen. Als das nicht geschah, spürte er, wie die Erde wieder in ihr normales Schwerefeld

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