Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Handelnden mit Vor- und Nachnamen benannt und mit äußerster Genauigkeit ihre Gewohnheiten, Besuche, ihre beruflichen Aktivitäten, familiären Beziehungen, die ihnen zur Verfügung stehenden Fahrzeuge sowie die Orte beschrieben hat, an denen sie ihren Vergnügungen nachgingen, und sogar von einem Großteil die Handynummer nennen konnte. Ferner hat sie das Verhalten der Täter nicht als undifferenziertes Ganzes geschildert, sondern in Bezug auf ihre Handlungen genaue Unterscheidungen getroffen, obwohl diese durchweg brutal und verletzend waren. Sie hat beispielsweise zwischen Domenico Cutrupi, der ständig brutal und aggressiv war, und Michele Iannello differenziert, der manchmal freundlicher war, obgleich auch er streng darauf bedacht war, seine perversen Lüste vollständig zu befriedigen.«
Er hat alles gehört. Sie haben alles gehört, was ich gesagt habe.
»Nach Ansicht des Gerichts ist das Verhältnis psychischer Abhängigkeit sowohl als Erklärung für die Tatsache zu sehen, dass das Opfer eine unmittelbare Anzeige unterlassen hat, als auch für seinen Entschluss, eine derartige Angelegenheit, mit der es nicht angemessen umgehen konnte, für sich zu behalten, sowie für das Ausbleiben einer Reaktion auf die wiederholten sexuellen Forderungen und die Zahl der Demütigungen.
Daher ist der Aussage von Anna Maria Scarfò über diese Jahre der Angst und des Martyriums nach Ansicht des Gerichts ein Höchstmaß an Glaubwürdigkeit beizumessen.«
Ist es nicht wunderbar, zu atmen?
Im Winter 2007, genauer gesagt am 6. Dezember, kommt das Urteil der letzten Instanz vom Kassationshof. Es wurde in allem bestätigt. Mit einundzwanzig Jahren bin ich zum ersten Mal wirklich im Besitz meiner Wahrheit.
Ich habe das Portal des Gerichts von Palmi durchschritten.
Jetzt verlasse ich es wieder in die andere Richtung. Rein gewaschen. Die werden dafür bezahlen. Im Gefängnis. Und ihre Familien haben jetzt keine Ausreden mehr.
Ich fühle weder Stolz noch Freude. Ich fühle mich einfach nur frei. Zum ersten Mal stark. Sie haben mich angehört und mir geglaubt. Hätte ich mir das doch schon früher vorstellen können.
Das Dorf
Der Wagen hält genau vor dem Haupteingang des Bahnhofs.
Anna Maria versucht, schneller als Domenico zu sein, und geht zum Ausgang. Sie möchte jeden Kontakt mit Cucinotta vermeiden. Sie möchte ihn nicht sehen. Sie will ihm nicht in die Augen sehen. Nicht in sein Gesicht sehen.
Aber Cucinotta hat sie ebenfalls bemerkt. Er verlässt den Wagen und kommt auf sie zu. Und er ist schneller als Anna.
Er sagt nichts. Wortlos versperrt er ihr den Weg.
Anna weiß nicht, wohin sie sich wenden soll.
Die zweite Anzeige
A m 7. Oktober stehe ich wieder vor dem Gericht von Palmi. Warum? Dieses Mal will nicht ich das Geschehen schildern, sondern ich möchte lieber die Worte des Staatsanwalts zitieren, mit denen er meinen Fall vorgetragen hat. Inzwischen bin ich so vertraut mit der Gerichtssprache. Dies ist ein neuer Teil meines Lebens. Ich lese keine Bücher, bei mir zu Hause gibt es so etwas nicht. Auch keine Zeitungen. Aber seit sechs Jahren lese ich Gutachten, Unterlagen, Berufungen. Ich lese sie langsam, wäge jedes einzelne Wort ab. Es gefällt mir, das Ganze zu begreifen.
Außerdem ist es schwierig, das eigene Leben auf die Reihe zu bekommen, die Erinnerungen, Gefühle, Tatsachen. Ich erzähle sie, aber die Erinnerungen verwischen und überlagern sich. Wenn ich dagegen die Worte lese, die die Richter verwendet haben, wirkt alles so klar und eindeutig:
»Im Sommer 2001 wurde Anna Maria Scarfò, als sie vor einer Bar in San Martino vorbeikam, von Maurizio Hanaman gerufen, der zusammen mit Antonio Cianci auf einer Stufe saß. Hanaman sagte ihr, sie würden sie in fünf Minuten an der Schule von San Martino abholen. Scarfò sagte, dass sie nicht zu diesem Treffen kommen wolle, aber Hanaman drohte ihr, er würde sie verprügeln, falls sie nicht käme. Das Mädchen gab nach und ging zu ihrer ehemaligen Schule. Die beiden holten sie in Ciancis Wagen von dort ab, sagten ihr, sie solle sich auf der Rückbank hinlegen, und brachten sie zu Hanamans Wohnung in San Martino. Dann führte Hanaman sie in ein Zimmer. Während Cianci draußen wartete, entkleidete er sich, packte sie an den Armen und stieß sie aufs Bett. Das Mädchen wehrte sich, aber Hanaman ohrfeigte sie und sagte zu ihr, wenn sie nicht nachgäbe, wüsste sie ja schon, was ihr zustoßen würde. Sie hatten Geschlechtsverkehr. Dann ging er aus dem Zimmer,
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