Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Keiner. Welche Mutter wird mich noch als Partnerin für ihren Sohn wählen? Keine. Doch ich konnte nicht schweigen.
Mit dreizehn war ich noch zu klein, um mich wehren zu können, sogar um es zu verstehen. Jetzt habe ich keine Entschuldigung mehr. Jetzt möchte ich mein Leben wieder in die eigene Hand nehmen.
Ich habe keine Ahnung, wie mein Leben aussehen wird. So viele Jahre lang habe ich in Atemnot verbracht. Aber ich musste irgendwo anfangen. Und dieser Punkt war das Portal zum Gerichtsgebäude von Palmi.
Ich habe es durchschritten.
Damit ich wieder frei atmen kann, muss der Richter mir glauben.
Das Dorf
»Sie hat uns zugrunde gerichtet. Sie hat uns völlig ruiniert. Sie hat uns unsere Männer weggenommen, und jetzt spielt sie die Heilige. Sie hat uns zugrunde gerichtet. Und jetzt stehen wir ohne unsere Männer da.«
»Und ich ohne Vater.«
»Mir hat sie den Bruder genommen.«
»Erst hat sie sie ruiniert, und jetzt will sie sich auch noch rächen.«
»Es ging uns so gut … und jetzt? Was passiert jetzt mit unserer Familie? Unsere Männer sind im Gefängnis. Wir Frauen sind allein.«
»Ich erwarte ein Kind. Und habe keinen Mann. Meiner ist wegen der im Gefängnis.«
»Schlampe.«
»Verräterin.«
»Spitzel.«
»Sie hat uns zugrunde gerichtet.«
Weihnachten bei den Carabinieri
I m Dorf riecht es nach Weihnachten, das heißt, nach dem Olivenholz, das in den Kaminen brennt. Weihnachten in San Martino, das sind die halbmondförmigen Petrali. Weihnachten schmeckt nach getrockneten Feigen, nach Rosinen, nach gehackter Mandarinenschale, nach feingewürfeltem Zitronat und Orangeat und Schokolade.
Petrali sind das für unsere Gegend typische Weihnachtsgebäck. Gefüllte Hörnchen aus Mürbeteig. Die Zutaten sind einfach, was man so im Haus hat, und sie schmecken sehr süß, um den pikanten Geschmack der Festtagsbraten und -soßen abzumildern. Eigentlich werden sie als Halbmonde geformt, aber ich mache auch gern Dreiecke oder Herzen. Dann bedecke ich die Füllung nicht ganz, sondern umrahme sie mit feinen Teigsträngen.
Im vergangenen Jahr habe ich mich zu einer ausgezeichneten Köchin entwickelt.
Der 23. Dezember 2002. Morgen ist Heiligabend. Bei uns zu Hause haben wir nie einen Baum. Dafür ist kein Platz.
Ich habe Petrali gebacken und heute Vormittag meiner Avvocatessa welche gebracht. Ich habe die ganze Nacht daran gearbeitet und eine große Dose für die Carabinieri übrig behalten. Ich möchte auch ihnen Gebäck bringen.
So feiere ich Weihnachten. Das Gericht ist wegen der Feiertage geschlossen. Der nächste Verhandlungstag ist erst wieder im Januar. Eine kurze Verschnaufpause. Obwohl Pause nicht Ruhe bedeutet.
Die Drohungen und die merkwürdigen Vorfälle gehen weiter. Im Haus sind wir immer in Alarmbereitschaft.
Die Petrali habe ich für meine Avvocatessa und für meine Schutzengel gebacken, nicht für uns. Bei uns zu Hause gibt es schon seit Jahren kein Weihnachten mehr.
»Guten Abend, Maresciallo.« Ich betrete die Kaserne, als wäre ich hier zu Hause, trage ein in farbiges Papier eingepacktes Tablett mit den Keksen in der Hand und grüße laut.
»Ciao, Mariuccia.«
»Cia’ Annarella.« – »Da ist ja unser kleines Fräulein.«
Alle begrüßen mich. Die Kaserne der Carabinieri liegt am Ende der Straße, in der ich wohne. Dreihundert Meter entfernt. Nur ein paar Minuten Weg. Ich bin hier zu Hause. Sie nennen mich Anna oder Maria, alle benutzen Kosenamen.
»Ich habe euch Petrali mitgebracht. Frohe Weihnachten.«
Ich stelle das Tablett auf den Schreibtisch des Kommandanten. In der Kaserne von San Martino arbeiten ungefähr ein Dutzend Carabinieri.
»Oh, unsere tüchtige Annarella.« Der Kommandant öffnet das Geschenkpapier und kostet als Erster, und dabei fallen ihm Zuckerkrümel auf die Uniform.
»Ach, Anna, ich muss dich um einen großen Gefallen bitten, du darfst mich auf keinen Fall enttäuschen.«
Ich beobachte, wie der Maresciallo die Kekse isst, und warte auf seine Bitte.
»Im Zimmer des Brigadiere ist ein Karton, und im Flur der Kaserne, ich weiß nicht, ob du ihn beim Hereinkommen gesehen hast, steht ein Tannenbaum. Könntest du uns nicht helfen, den Weihnachtsbaum zu schmücken? Wir haben nicht viel Schmuck, du weißt ja, wie das ist … wir sind hier lauter Männer … da fehlt einfach … eine weibliche Hand.« Der Maresciallo verhaspelt sich, er fängt an zu stottern, dann steckt er sich noch einen Keks in den Mund und führt mich zu der Schachtel mit dem
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