Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
noch. Und mein Atem wird immer tiefer.
Folgendes sagen die Richter der zweiten Instanz:
»… diesem Gericht wurde ein in jeder Beziehung abscheulicher Fall vorgelegt, der sich in einem kleinen Dorf im Hinterland der Provinz abgespielt hat. Gemäß der durch die erste Instanz bestätigten Anklage hat eine Gruppe von jungen Männern (bestehend aus den Brüdern Iannello, aus Cutrupi und Cucinotta) über einen langen Zeitraum ein knapp dreizehnjähriges Mädchen jeder denkbaren Art von sexueller Gewalt und Missbrauch ausgesetzt. Einige von ihnen gingen dabei sogar skrupellos so weit, das Mädchen an Freunde zu verleihen, wie beispielsweise den heutigen Berufungsführer La Torre, dem Domenico Iannello ›einen Gefallen schuldete‹ (womit sie gleichzeitig deutlich erkennen lassen, dass sie ihr Opfer nur als Gegenstand betrachteten, über den sie nach Belieben verfügen konnten), oder auch jemanden wie Trinci zum Mitglied der ›privilegierten‹ Gruppe zu machen, weil dieser als Eigentümer eines ansprechenden Hauses auf dem Land einen bequemen Ort für die Treffen und den sexuellen Missbrauch zur Verfügung stellen konnte.«
Ja, das ist meine Vergangenheit. Durch die Worte des Richters scheint sie gleich realer zu werden. Und seine Worte lassen auch meine Gegenwart realer und schrecklicher erscheinen.
»Zunächst ist da ein knapp sechzehnjähriges Mädchen, das einen düsteren und schrecklichen Fall ans Licht bringt, von dem es behauptet, er würde sich schon seit Jahren hinziehen und es unabhängig vom Ausgang des Verfahrens in der allgemeinen Meinung seines kleinen Dorfes im Hinterland der Provinz Reggio Calabria als ›leicht zu haben‹ abstempeln.
Da ist ein Mädchen – über dessen Leid und Verzweiflung die Ermittlungsbeamten beim Darlegen der Tatbestände berichtet haben –, das absolut eigenständig und unabhängig und, wie gerichtlich festgestellt wurde, ganz ohne das Wissen seiner Eltern handelt.
Da ist ein Mädchen, das nicht nach Aufmerksamkeit sucht und trotz seiner Angst vor den Konsequenzen (was in seinen wiederholten, naiven Bitten zum Ausdruck kommt, die Carabinieri sollten angeben, sie hätten die Ermittlungen auf eigene Faust oder als Folge anonymer Anzeigen aufgenommen und nicht aufgrund seiner eigenen Anzeige) angibt, vom Mut der Verzweiflung getrieben worden zu sein, da es nicht mehr ertrage, ›mit ihnen mitgehen zu müssen und all die Sauereien zu machen, die sie von mir verlangen‹, und weil es Angst davor habe, in einem schwachen Moment den Forderungen dieser ›Rotte‹ nachzugeben, auch seine kleinere Schwester mitzubringen, und so auch ihr Leben zu einer endlosen Reihe von Vergewaltigungen, sexuellen Übergriffen, Quälereien und Demütigungen zu machen, die es bislang erlebt hat und unter denen es immer noch leidet. Sicher könnte man trotz allem, was bislang dargelegt wurde, davon ausgehen, man habe einen psychisch so verwirrten Menschen vor sich, dass er wirklichkeitsfremd und mit einer perversen Vorstellungskraft abartige Träume für die Realität hielt, was zu einer verdrehten Wirklichkeitswahrnehmung führte, die keine Rücksicht auf nichts und niemanden nahm, nicht einmal auf sich selbst.
Doch keiner der so zahlreichen von der Verteidigung angeführten Zeugen hat jemals, nicht einmal indirekt, psychische Veränderungen von derartigen Ausmaßen angeführt, die, sollten sie tatsächlich bestehen, in einem so kleinen dörflichen Umfeld auf keinen Fall unbemerkt bleiben könnten.
Und da Untersuchungen zur Feststellung ihres geistigen Zustands wie auch gynäkologische Untersuchungen notwendig, ja unumgänglich waren, hat sich die junge Anna Maria Scarfò, nachdem sie einmal die Entscheidung getroffen hatte, ihr eigenes tragisches Schicksal an die Öffentlichkeit zu tragen, nicht nur der Verleumdung und sozialen Ächtung ausgesetzt, sondern musste sich notwendigerweise auch den Behörden stellen und sich neben wiederholten Befragungen und Ortsbegehungen auch intimen und heiklen amtsärztlichen Untersuchungen durch völlig Fremde unterziehen.«
Er hat mir geglaubt. Der Richter hat mir geglaubt. Ich lese das Urteil weiter:
»Unter Einbeziehung der vorausgegangenen Betrachtungen kann man an dieser Stelle anfügen, dass dieses sechzehnjährige Mädchen, das zweifelsfrei bei voller geistiger Gesundheit und zweifelsfrei entjungfert ist, nicht etwa Unbekannten ungenau beschriebene und unaussprechliche Taten zugeschrieben hat, sondern bei der Schilderung dramatischer Ereignisse die
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