Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
Weihnachtsschmuck.
Mir erscheint es eine ziemlich einfache Aufgabe, einen Weihnachtsbaum zu schmücken, und ich begreife nicht, warum der Maresciallo sich so anstellt.
»Aber sicher, ich mache mich sofort an die Arbeit.«
Ein Carabiniere hilft mir, die Schachtel in den großen Raum zu tragen, und man bringt mir auch einen Tritt, weil ich zu klein bin, um die Spitze des Baumes zu erreichen. Es ist eine schöne Tanne, mit dichten Zweigen, die noch nach Harz duften.
In aller Ruhe suche ich die Kugeln nach Farben aus, das Lametta und die Lichter. Schweigend mache ich mich ans Werk.
Während ich summend vor mich hin arbeite, merke ich, dass ich nicht allein bin. Der Kommandant reicht mir die Kugeln an. Der Brigadiere kümmert sich um die Beleuchtung. Ein anderer Carabiniere dirigiert von hinten die Arbeiten. Sie sind einer nach dem anderen hereingekommen. Die ganze Kaserne ist jetzt um mich herum. Da ist der Brigadiere, der mich Mariuccia nennt, und mir väterlich jeden Tag Kraft gibt und Mut macht. Der Kommandant und wirklich alle Jungs aus der Kaserne von San Martino sind gekommen.
»So, das war’s, jetzt sitzt auch der Stern. Fertig.«
Dann stelle ich mich auf die Zehenspitzen und rücke den goldenen Stern auf der Baumspitze zurecht. Ich betrachte mein Werk, während mir der Maresciallo ein rotes Päckchen reicht. Alle Carabinieri stehen um den Baum und mich versammelt.
»Das ist nur eine Kleinigkeit. Von uns allen. Frohe Weihnachten, Anna Maria.«
Ich stehe noch auf dem Tritt und weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Auf das Päckchen in den Händen des Maresciallo. Den Baum. Die Lichter. Auf meine Carabinieri. Ich nehme das Päckchen.
»Darf ich es aufmachen?«, frage ich nur.
»Nein, damit musst du schon bis morgen Abend warten«, antwortet der Kommandant. Er hilft mir vom Tritt herunter.
»Sieh mal, wir legen es hier unter den Weihnachtsbaum, und du kommst morgen vorbei, um es zu öffnen. Es ist nur eine Kleinigkeit. Nichts Besonderes.«
»Aber ich habe euch doch gar nichts geschenkt …«, sage ich verlegen.
»Stimmt doch gar nicht. Was ist mit den Petrali?«, antworten alle wie im Chor, und ich bemerke auf einigen Uniformen bunte Zuckerkügelchen.
Mein Geschenk öffne ich am Abend des 24. Dezembers. Ein rosafarbener, unglaublich weicher Schal.
Die Carabinieri sind oft unbeholfen und ein bisschen förmlich; trotzdem erlebe ich mit sechzehn Jahren in dieser Kaserne mein erstes richtiges Weihnachtsfest, nach so vielen, ich weiß gar nicht wie vielen, die einfach übergangen wurden. Sie schenken mir das Weihnachtsfest. Wir schmücken gemeinsam den Baum und teilen uns die Petrali.
Jemand schaltet das Radio ein, dort singen sie von Schnee, Glocken und vom Jesuskind.
Ist das der Zauber von Weihnachten?
Ja, genau das.
Es ist schon dunkel. Ich bin auf dem Heimweg. Es sind nur ein paar Hundert Meter. Und heute Abend habe ich keine Angst, hier entlangzulaufen.
Die Luft ist kalt, und der Himmel wird von dem dichten Rauch verdunkelt, der aus den Schornsteinen aufsteigt. Ich mag Geschenke. Und ich mag es, verwöhnt zu werden. So wie man ein kleines Kind knuddelt und verhätschelt. Obwohl ich schon sechzehn Jahre alt bin.
»Morgen ist Weihnachten«, sag ich mir laut und vergrabe mein Gesicht in dem rosa Schal.
Das Dorf
Verschlafen und still hat Anna Maria wie jeden Morgen früh den Bahnhof erreicht. Es ist 7.20 Uhr. Sie wartet auf den Zug nach Taurianova, wo sie in einer Rosticceria Arbeit gefunden hat.
Es ist früh. Sie ist müde. Aber sie sieht sich wie immer aufmerksam um. Passt auf sich auf.
Und so sieht sie durch die Glastür Domenico Cucinottas Wagen kommen.
Sie steht auf. Im Wartesaal ist noch niemand außer ihr.
Wo kann sie hin?
Das Urteil
I ch atme. Hole Luft. Atme. Ich fülle meine Lungen mit Luft und weine. Ich berühre meine Wangen. Da sind Tränen. Endlich.
Das Urteil des für die Vorverhandlung zuständigen Richters am Gericht von Palmi ist eingetroffen. Es ist der 22. Mai 2003.
Das Gericht verurteilt Domenico Cucinotta, Michele Iannello, Domenico Iannello und Domenico Cutrupi zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren, Serafino Trinci zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten sowie Vincenzo La Torre zu einem Jahr und acht Monaten.
Ich atme weiter, und zwei Jahre später legt das Berufungsgericht Reggio Calabria das Urteil 147 vor. Am 26. April 2005. Das Urteil in erster Instanz wird in der zweiten bestätigt. Ein Doppelsieg. Auf der ganzen Linie.
Ich atme immer
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