Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
sah ich nur eine Straße aus Glas und Scherben, und ich hatte keine Schuhe, um darauf zu gehen, war schutzlos, barfuß. Wohin hätte ich schon gehen können? So viele Jahre lang war ich einfach wie erstarrt und habe es erduldet. Und als ich mir meinen Körper wieder zurückgeholt hatte, lehnte ich ihn ab. Ich fand mich auf einmal in einer Hülle vor, in der ich mich nicht mehr wiedererkannte. Deshalb kann ich mich nicht im Spiegel ansehen.
In dieser Geschichte fehlen zwei Dinge: mein Körper und ihre Gesichter. Obwohl ich es so oft versucht habe, bin ich nicht in der Lage, sie zu beschreiben. In der Nacht träume ich häufig von ihnen. Aber ich träume nicht von ihren Gesichtern, sondern vom Geruch der Erde, der Orangen, vom Geruch nach Schweiß und Zigaretten. Ich träume von ihren Stimmen, ihren schwieligen Händen, den rauen Bartstoppeln. Ihrer Haut, die mir den Atem raubt. Die Gesichter sind unwichtig. Es sind Männer wie viele andere auch. Die einen mit Brille, andere mit Glatze, mal mit Locken oder Bart, manche schauen mich nie an, andere haben große Zähne oder trockene Lippen.
Manche Leute wehren sich aus Angst oder weil sie mutig sind. Andere holen sich ihr Leben wieder zurück, weil sie es nicht mehr aushalten, weil sie ganz unten angekommen sind und es Zeit ist, da wieder herauszukommen. Manche Leute haben Träume.
Ich habe meine Jugend nie gelebt. Ich habe mich verbraucht. In diesen Jahren habe ich das Zeitgefühl verloren. Alle Tage waren gnadenlos gleich und die Nächte ohne Schlaf.
Und als ich endlich gesagt habe, es reicht, habe ich das aus Liebe zu meiner Schwester getan. Für mich hatte ich keine Liebe mehr. Habe ich nie gehabt.
Das ist das Einzige, was ich mir vorwerfe.
Dass ich mich nicht genug geliebt habe.
Niemand hat mich das gelehrt, und deshalb war ich nicht in der Lage, mich selbst zu lieben.
In meinem Kopf gibt es keine Liebe für mich, da ist nichts als der schwache Nachhall ihrer Verwünschungen. Sie lassen mich nie in Ruhe. Wie die Eisfiguren der ersten Nacht. Sie lassen meine Träume vertrocknen. Schwächen meine Energie.
»Malanova.«
Dieses Wort schmerzt mich.
Für mein Dorf bin ich die Unheilsbringerin, das verfluchte Geschöpf, und wie alle schlechten Nachrichten möchte mich keiner sehen, aufnehmen, verstehen. Es ist leichter, mich auf Abstand zu halten. Als ob ich eine Giftmischerin wäre. Als ob ich ihr Jahrtausende altes Gleichgewicht zerstören könnte.
Ich hasse dieses Wort. Ich hasse es mit all meinem Selbst.
»Malanova.«
Das ist ein Fluch. Und sie haben versucht, mich das spüren zu lassen von dem Tag an, als ich die Anzeige gestellt habe. Und dann in den langen Jahren des Prozesses.
Ich bin zweimal vergewaltigt worden. Das erste Mal von der Rotte. Das zweite Mal von denen, die mich ausgegrenzt, beschimpft, bedroht haben, die mir das Gefühl gegeben haben, dass ich schmutzig bin, unzulänglich, dass etwas mit mir nicht stimmt.
Meine eigene Heimat hat mich »Malanova« genannt.
Ein Name, der mich zu einer Ausgeschlossenen, einer Ausgestoßenen macht.
»Malanova.«
So könnte ein Stern heißen. Ein Stern, der Zerstörung und Pest übers Land bringt. Ein Stern, der das Licht und das Leben in sich aufnimmt, der alles einsaugt und nichts zurücklässt.
Bei dieser Vorstellung beginne ich zu zittern.
Ganz von selbst.
Ich stelle mir einen Punkt im Universum vor und wie das Licht von einer Himmelsbiegung verschluckt wird. Mir ist kalt.
Bin ich das wirklich?
»Malanova.«
Ich möchte diese Beschimpfung loswerden. Diesen Fluch. Dieses Unheil. Ich möchte wieder frei sein.
Ich möchte lernen, mich zu lieben und an die guten Sterne zu glauben, denen man zusieht, wie sie vom Himmel fallen, und sich dabei etwas wünscht. Und das kann ich nur auf eine Weise schaffen: Ich muss von hier weggehen, wo die, die schlecht über mich reden, immer sein werden. Muss weg von Malanova.
Und so spreche ich die erlösende Formel aus: »Ich bin Malanova für den, der mich missbraucht hat, denn ich werde nicht aufhören, sondern erst vor der Wahrheit Halt machen. Ich bin Malanova für den, der nicht an die Stärke und den Mut der Frauen glaubt. Ich bin Malanova für die Mütter und Frauen, die ihre Söhne und Männer aus Angst, Gewohnheit oder Unwissenheit verteidigen. Ich bin Malanova für all die aus meiner Gegend, die Angst davor haben, jemanden anzuzeigen, das Schweigen zu brechen, etwas zu verändern. Ich bin Malanova, weil ich die Liebe suche.«
Das Dorf
Der Platz ist
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