Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
menschenleer. Nur die Kirche füllt ihn aus, und ihre Silhouette scheint in der Luft zu zittern. Sie atmet langsam im ruhigen Klang der Glocken. Ein schwarz gekleideter Mann kommt aus einer Seitenstraße. Er schlurft vorwärts und schaut niemanden an. Bald ist er verschwunden. Und der Platz liegt wieder schweigend da. Gelbliches Licht erfüllt die wartende Atmosphäre.
Es kommen keine Fremden nach San Martino di Taurianova. Und keiner verlässt das Dorf.
Das Dorf ist wie erstarrt.
Epilog
D ies ist die Geschichte einer dreizehnjährigen Hure. Jetzt kennen Sie sie. Oder fast. Auf jeden Fall wissen Sie genug, um sie zu verstehen. Jetzt sind wir fast am Ende angekommen.
Wie Sie gesehen haben, spielt sich meine ganze Geschichte in diesem San Martino ab: der Platz mit der Kirche, die Eisenbahn, die Straßen des Dorfes. Ich frage mich immer wieder: Wie viele Straßen mag es in meinem Dorf geben? Fünfzig? Hundert? Mehr nicht. Das ist alles, hier zwischen den Feldern mit Mandarinen- und Olivenbäumen. Ein Dorf, das in einem rauen, unbeherrschbaren, strengen Klima entstanden ist, nur ein Haufen Häuser. Hier, wo die Sonne, die im Mai das Land überflutet, im Juli alles versengt.
Das ist Kalabrien. Ein Land der Extreme. Das Land, wo der Geist der Leute den Feldern um sie herum gleicht: Er ist hart geworden, um sich vor der Natur und den Menschen zu schützen.
Das Land des Windes und des Schweigens.
Das Land der Ehre. Aber was bedeutet Ehre? Es bedeutet verletzte Ehre. Doch wenn es sich um die Ehre einer Frau handelt, zählt sie nicht viel. Mehr zählt die Ehre der Familie, die es zu verteidigen gilt. Und noch mehr zählt die Ehre des Dorfes. Und das Schweigen.
Ich fühle mich schuldig gegenüber meiner Familie, weil sie jetzt so ein Leben führen muss. Aber ich würde alles noch einmal genauso machen, seit dem Tag, an dem ich alles angezeigt habe.
Ich ertrage es nicht, meinen Vater arbeitslos zu Hause sitzen zu sehen, wie er meinem Blick ausweicht. Ich versuche, meine Mutter nicht anzusehen, die sich nicht mit ihm streiten will und versucht, mich zu beschützen. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich meine Schwester streichle und weiß, dass sie so gerne einen Verlobten hätte wie jedes Mädchen in ihrem Alter und stattdessen gezwungen ist, immer zu Hause zu bleiben.
Die Drohungen haben 2002 angefangen, direkt nach der ersten Anzeige. Acht Jahre der Angst und der Ausgrenzung.
Am Anfang habe ich tatsächlich gedacht, ich hätte etwas falsch gemacht. Aber so ist das nicht. Und sie werden es niemals schaffen, mir das einzureden.
An meiner Seite sind die Avvocatessa Rosalba und die Carabinieri. Ich habe drei Prozesse durchgestanden. Nein, sogar vier. Vielleicht beginnt jetzt sogar der fünfte, wenn die in Berufung gehen.
Ich habe das Schutzprogramm abgelehnt, und seit drei Monaten lebe ich unter Begleitschutz. Ich weiß nicht, wie lange das so gehen wird. Es ist nicht einfach, mit einer Polizeieskorte zu leben. Es ist nicht einfach, immer alles anzukündigen, zu erklären, zu begründen, immer und trotz allem.
Ich bewege mich in dieser Wohnung. Da ist mein Bett. Das meiner Schwester. Die Küche. Der Ofen. Das kleine Bad. Der Hof. Die Hundehütte. Wieder mein Bett.
Ich bin nichts als Vergangenheit. Jetzt bin ich erschöpft. Ich möchte endlich eine Zukunft haben. Ich bin vierundzwanzig. Ich möchte mir einen Computer kaufen und lernen, wie man im Internet surft. Ich möchte mir ein kleines Auto kaufen, es kann ruhig gebraucht sein, und mir eine Arbeit suchen, in Taurianova, vielleicht auch in Gioia Tauro oder sogar in Reggio Calabria.
Wenn ich eine Stelle gefunden habe und ein Gehalt bekomme, kann ich mir eine eigene Wohnung suchen, und meine Schwester kann bei mir wohnen. Wenn mein Vater und meine Mutter in San Martino bleiben wollen, na gut, Hauptsache, sie kommt mit mir.
* * *
Ich sehe das Foto des Carabiniere aus meinem Portemonnaie an, das ich aus der Zeitung ausgeschnitten habe. Und ich hoffe, dass ich es bald durch ein echtes Foto ersetzen kann.
Alle sagen mir, ich sei mutig gewesen. So viele Reporter sind zu mir nach Hause gekommen, und ich war auch im Fernsehen. Ich weiß nur, dass ich, das Püppchen, viel zu früh aufgehört habe, mit Puppen und Stofftieren zu spielen, dass ich niemals eine Kindheit hatte.
Jetzt will ich eine Frau sein. Das sollen sie mir nicht auch noch nehmen.
Ich muss immer wieder über die Worte des Vorsitzenden des ersten Gerichts nachdenken: »Haben Sie sich niemals einem Mann
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