Sommer des Schweigens: Ich war in der Gewalt dreier Männer. Und ein ganzes Dorf sah zu (German Edition)
hingegeben mit all der Lust, mit der man sich hingeben kann?«
Ich weiß nicht genau, was das bedeutet, aber im Grunde bin ich noch Jungfrau. Ich habe nie gefühlt, was Liebe bedeutet. Davon träume ich jetzt. Ich träume davon, eine Frau zu sein und keine Angst mehr zu haben.
Raus aus dem Dorf
Es ist im Frühling 2010. Nach einer Woche voller Regen scheint jetzt die Sonne. Die erste Sonne im Mai. Anna verlässt die Wohnung. Sie sagt der Eskorte Bescheid.
»Los, Jungs, gehen wir.« Sie zieht dunkle Jeans und ein blaues T-Shirt an.
»Wohin fahren wir? Wir müssen dem Comandante Bescheid geben. Gehen nur Sie aus dem Haus? Wie lange werden wir weg sein?«, fragt der Brigadiere. Ein dünner junger Mann; er ist zum zweiten Mal im Einsatz bei Anna Maria. Und sehr gewissenhaft.
»Ja. Ich gehe allein aus«, sagt Anna ohne weitere Erklärungen, und dann steigt sie in den Wagen.
Der Carabiniere am Steuer lässt den Motor an.
»Ich weiß nicht, wie lange wir fortbleiben werden.«
»Wohin fahren wir?«, fragt sie der dürre Carabiniere.
»Heute fahren wir ans Meer.«
Anna Maria läuft die Strandpromenade von Palmi entlang. Es ist Frühling, aber es ist noch ziemlich kühl. Hinter ihr sind die beiden Männer, zwei Schatten, nie zu nah, nie zu weit weg.
Anna Maria bleibt stehen. Das Wasser hat ihre Schuhe durchnässt. Sie zieht sie aus. Sie läuft über den Strand und spielt mit den Wellen. Die Carabinieri sind stehen geblieben. Sie warten auf sie am Ende des Strandes.
Heute will Anna Maria nicht über die Drohungen nachdenken, über die Angst, über ihr Zuhause, das für sie zu einem Gefängnis geworden ist. Über ihr Dorf. Michele Iannello ist vor ein paar Tagen aus dem Gefängnis entlassen worden. Er hat seine Strafe verbüßt. Alles kehrt wieder zur Normalität zurück. Und San Martino will bloß noch vergessen.
Die werden wieder zu Ehemännern, Verlobten, Vätern, Brüdern.
Und Anna?
Seit Monaten fragt sie sich: Was soll ich jetzt tun?
Sie weiß es nicht. Es ist alles noch so verworren. Sie hat ihre Peiniger angezeigt, um sich ihre Freiheit zurückzuerobern, aber sie ist nicht frei. Sie hat Mut gehabt. Man hat ihr geglaubt. Aber das war nicht genug. Denn sie ist immer noch allein.
Anna ist eine Kämpferin. Jetzt ist der schwierigste Moment der Auseinandersetzung gekommen.
In den drei Jahren, in denen sie kein Kind sein durfte, in denen die sich ihr Leben genommen haben, hat sie große Stärke bewiesen und hat es so geschafft, zu überleben. Jetzt muss sie diese Stärke einsetzen, um zu leben.
Manche Geschichten müssen erzählt werden, obwohl sie wehtun. Keiner möchte sie gern lesen. Aber sie werden dennoch geschrieben, weil keiner sie durchleben sollte.
Anna Maria möchte in ihrem Dorf bleiben, bei ihrer Familie, unter dem Himmel Kalabriens.
Diese kleine Frau hat ihre Geschichte erzählt, weil sie keinen Moment aufgehört hat, an sich und ihre Heimat zu glauben.
* * *
Anna Maria läuft über den Sand, dorthin, wo das Land ins Meer übergeht, in den Sonnenuntergang hinein. Vor und zurück. Als der Himmel den letzten Sonnenstrahl verschluckt, bleibt sie stehen. Sie säubert sich ihre Füße und zieht die Schuhe wieder an.
Die Carabinieri der Eskorte sind direkt hinter ihr.
»Vielen Dank. Wir können gehen.«
»Fahren wir nach Hause zurück?«, fragt der junge Carabiniere.
Anna lächelt.
»Ja. Aber um wirklich nach Hause zurückzukehren, muss ich jetzt fortgehen. Es ist an der Zeit.«
Der Carabiniere versteht nichts, aber er steigt zu seinem Kollegen in den Wagen. Kurz darauf kommt auch Anna Maria. Es ist Abend geworden. Sie fahren los, Richtung San Martino di Taurianova.
Anna versucht, trotz der Dunkelheit jedes Haus, jede Straße, jedes Stück vom Himmel mit ihren Augen festzuhalten. Eins nach dem anderen reißt sie sie heraus und raubt sie mit ihren Blicken. Um sie zu bewahren. Um nicht zu vergessen. Um sicher zu sein, dass sie den Weg finden wird, wenn sie zurückkommt. Ende Juni 2010 willigt Anna Maria Scarfò ein, zu verschwinden. Acht Jahre nach der Anzeige und nach vier Prozessen haben die Drohungen nicht aufgehört.
Und zum zweiten Mal in ihrem Leben beschließt sie zu sagen: »Es reicht!«
Dieses Mal sagt sie es dem ganzen Dorf ins Gesicht.
Sie bedroht es nicht. Sie hält es nur nicht mehr aus. Sie verurteilt es nicht. Sie verlässt es. Der äußerste Akt der Rebellion und Befreiung.
Anna geht aus San Martino di Taurianova fort. Sie verlässt ihr Zuhause. Das Zimmer mit den zwei
Weitere Kostenlose Bücher