Sommer mit Nebenwirkungen
Knickerbocker, dann wäre er Nick Knatterton. Sophie schaute auf seine Beine. Nein, er trug normale Jeans.
Der Mann hatte nun das Haupthaus erreicht und lehnte die Leiter an die Dachkante, genau zwischen Sophie und Laura.
»Er kommt jeden Abend«, sagte Laura. Ihre Stimme klang glücklich.
»Wer ist das?«, fragte Sophie zögerlich, denn etwas ließ sie ahnen, dass sie es eigentlich hätte wissen sollen.
»Haben Sie ihn noch nicht kennengelernt? Herr von Studnitz, der Hotelbesitzer. Seine Eltern haben früher das Sanatorium geführt, er hat es in ein Hotel umgewandelt …«
Neugierig beugte sich Sophie nach vorne und beobachtete, wie der Mann langsam nach oben stieg. Auf Höhe ihres Balkons blieb er kurz stehen, registrierte wohl ihre Sandalen auf der Brüstung und die offene Balkontür und dachte sich vermutlich seinen Teil. Dann endlich tauchte sein Kopf auf, erst die Mütze, dann das Gesicht.
»Normalerweise sammle ich nur einen Gast am Abend ein. Frau Ronstedt, wen haben Sie denn heute zu sich aufs Dach eingeladen?«, sagte er und schaute Sophie an. Schwer zu sagen, ob der Hotelchef nun Sophies Kletteraktion missbilligte oder amüsant fand. Sein Gesicht verriet nichts – eine zweite Nick-Knatterton-Ähnlichkeit. Und verrückterweise fiel ihr sofort das spitze Kinn des Hotelchefs auf, es war tatsächlich ein Knatterton-Kinn. Die Schärfe des Kinns wurde durch einen gepflegten Dreitagebart abgemildert und trat so weniger hervor, aber man erkannte die markante Kontur noch. Er war ein hübscher Mann, der zart und etwas melancholisch wirkte.
Ein leichter Wind fuhr Sophie durch die Haare, und sie flogen ihr vors Gesicht. Mit beiden Händen schob sie die Locken zurück. Warum hatte sie nie ein Haargummi dabei, wenn sie eines brauchte?
»Sophie Kaltenbrunn«, stellte sie sich vor. »Ich wollte nur schauen, ob die Aussicht hier oben wirklich schöner ist als auf meinem Balkon.«
»Und? Hat sich der Aufstieg gelohnt?«, fragte der Mann in neutralem Tonfall. Man hörte einen leichten Singsang in seiner Stimme, es war kein derber Dialekt, aber eine Färbung. Er war von hier. Auch der Ausdruck in seinen Augen verriet nichts, vielleicht blickte er ein wenig interessiert, aber nur ganz verhalten. Seine Augen waren braun, nein, fast grau – dolomitenfarben.
»Beine baumeln lassen tut immer gut«, antwortete Sophie charmant und versuchte ihn entwaffnend anzulächeln. Er war der Hotelchef, mit dem stellte man sich lieber gut. Nach dieser Kletteraktion konnte ihr Aufenthalt in Marienbrunn sonst schnell zu Ende sein.
»Herr von Studnitz …«, mischte sich nun Laura ein.
»Studnitz reicht völlig«, knurrte der.
»Alles ist meine Schuld. Ich habe Sophie …«, begann Laura nun, wurde aber wieder unterbrochen.
»Hören Sie, das ist mir einerlei. Ich habe Frau Kaltenbrunn aus der Nummer 13 hochkraxeln sehen, ich denke, die weiß, was sie tut. Vonseiten des Hotels weise ich aber wie jeden Abend darauf hin, dass das Betreten des Vordaches nicht erlaubt ist und auf eigene Verantwortung hin geschieht. Wenn mir die Damen jetzt bitte die Leiter hinunter folgen würden, der Gong müsste gleich schlagen.«
Tatsächlich, da erklang er. Ein tiefer, dunkler Ton. Immer wenn er gerade verebbte, wurde er neu geschlagen. Als gäbe es ein buddhistisches Kloster hier oben. Vielleicht war das ja das Rezept für eine erfolgreiche Schwangerschaft, leben wie in einem Kloster, mit Meditation und Einkehr. Womöglich bekam sie jetzt Essen mit allerlei entschlackenden Gewürzen vorgesetzt, und dazu Reinigungskuren. Oder indisches Spargelgewächs, das hatte man ihr mal empfohlen, es sollte helfen, die unfruchtbaren Phasen zu überwinden. Doch dann fiel ihr wieder der Aperol Spritz ein. Nein, Alkohol und Ayurveda, das passte nicht zusammen. Außerdem sah der Hotelchef mit seinem Dreitagebart, seinen Dolomitenaugen und seiner Schirmmütze so geerdet aus, der zündete abends bestimmt keine Räucherkerzen an. Und das bisschen Ayurveda im Spa-Bereich, das machte heutzutage doch jeder.
»Der Gong, der Gong!«, rief Laura nun aufgeregt.
»Frau Ronstedt, ganz ruhig. Konzentrieren Sie sich. Ich stehe unter Ihnen auf der Leiter, genau, erst der rechte Fuß, dann der linke …« Fürsorglich blieb er dicht hinter ihr auf der Leiter stehen, doch sie wollte schneller hinunter als er und erwischte mit dem Fuß seine Schirmmütze, die sogleich Richtung Boden segelte. Ohne Mütze sah Nick Knatterton gleich um zehn Jahre jünger aus, fand Sophie. Die Haare
Weitere Kostenlose Bücher