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Sommer mit Nebenwirkungen

Sommer mit Nebenwirkungen

Titel: Sommer mit Nebenwirkungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Leinemann
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leicht wellig und dicht, in einem schönen Aschblond. Auf halber Strecke angekommen, schaute er jetzt an Laura vorbei zu Sophie hinauf.
    »Kommen Sie mit, oder muss ich für Sie noch mal extra hochklettern?«, fragte er. War es ironisch gemeint? War er gereizt? Schwer zu sagen, vermutlich beides.
    »Komme, komme«, rief Sophie und schwang sich auf die Leiter. Laura hatte inzwischen schon das Gras erreicht und lief nun mit flatterndem weißen Kleid durch die hohe Wiese auf den Haupteingang zu. »Es ist Zeit! Der Gong«, rief sie. Nick Knatterton sah ihr hinterher und rief dann zu Sophie hoch:
    »Tut mir leid, ich muss einen Gast einfangen. Sie kommen allein zurecht?«
    »Kein Problem. Soll ich die Leiter irgendwo anders hinstellen?«, rief sie zurück.
    »Das mache ich schon, vielen Dank. Wir sehen uns.« Dann spurtete er Laura Ronstedt hinterher. Ein erstaunlich schneller Sprint, dachte Sophie. Und ob sie wollte oder nicht, ihr fiel auf, dass der Hotelchef einen kleinen, knackigen Po hatte. Schäm dich, Sophie, dachte sie.
    Herr von Studnitz holte Laura schnell ein, sie schien sich zu freuen und hakte sich sofort bei ihm unter. So gingen die beiden Arm in Arm durch den prächtigen Haupteingang. Jeder sah sofort, da war kein Prickeln zwischen den beiden, sondern reine Fürsorge, denn der Hotelbesitzer ließ Frau Ronstedt nicht aus den Augen und amüsierte sie augenscheinlich durch Small Talk, aber wohl nur, um sie einigermaßen gesittet in den Speisesaal zu lotsen und einen weiteren extrovertierten Auftritt zu vermeiden. Ein Pfleger und seine Patientin, dachte Sophie verwundert.
    Von allen Seiten strömten nun Hotelgäste zum Haupthaus. Die Frauen, die eben noch beim Aperitif unter der Kastanie gesessen hatten, näherten sich mit schnellen Schritten, die Familie mit den fünf Kindern brach förmlich aus dem Wald, zwei Ehepaare kamen jeweils getrennt von unten über die Blumenwiese, und auch von links, aus der Richtung der Liegehalle, hörte sie Stimmen. Von der Holzveranda drang das Geräusch von Stühlerücken, man stand von den Tischen auf und begab sich nach drinnen. Alles schien fest getaktet zu sein, in einem Ablauf, den Sophie nicht kannte.
    Und plötzlich fand sie, dass alle hier etwas sonderbar und behandlungsbedürftig aussahen. Womöglich war das unter der Kastanie eine therapeutische Sitzung gewesen, kein Cocktailtrinken mit den Mädels. Und die Familie mit den fünf Kindern – hatte da ein Kind vielleicht eine dieser Psycho-Modekrankheiten? ADHS vielleicht? Und die beiden Ehepaare, die gerade hochgewandert waren, sahen sie nicht erschöpft aus? Mussten die sich womöglich unter einem Baum aussprechen, weil der Paartherapeut es ihnen so verordnet hatte? Und das Sonderbarste: Niemand hatte groß auf sie geachtet, weder vorhin, als sie auf das Dach geklettert war und es sich dort gemütlich gemacht hatte, noch jetzt, als sie langsam die Leiter hinabstieg. Als sei das völlig normal, auf dem Dach zu sitzen.
    Wo bin ich hier bloß gelandet?, dachte sie, während sie den Fuß ins Gras setzte. Ist das wirklich ein Hotel? Oder immer noch ein Sanatorium, wie früher? Ein »Rekonvaleszentenheim«? Dies war ein eigenartiger Ort, das stand fest. Während sie sich ihre Sandalen wieder anzog, die sie beim Hinabsteigen von ihrem Balkon gepflückt hatte, spürte sie, dass sie bei Laura dem Geheimnis dicht auf der Spur war. »Der Gong! Es ist Zeit!«, hatte die freudig ausgerufen. Bei aller Liebe zu guter Küche, ihr selbst knurrte ja auch der Magen – aber normalerweise flippte man nicht regelrecht aus, wenn es Abendessen gab. Sehr verwundert betrat sie das Hotel und fragte sich erwartungsfroh und doch etwas beunruhigt: Was kommt jetzt?

10
    Sigmund Freud war vorgegangen wie ein Detektiv. Ein scheinbar unschuldiger Versprecher seines Gegenübers oder ein Wort, das einem einfach nicht einfallen wollte – schon begann er zu ermitteln. Im Studium hatte Sophie allerlei Freud-Texte lesen müssen und war immer wieder erstaunt, wie konkret und anschaulich der Mann schrieb. Seine Fälle griff er aus dem Leben. Nicht nur, was er von seinen neurotischen Patienten auf der Couch hörte, regte ihn an, sondern auch zufällige Plaudereien im Urlaub. »Nervengesunde fremde Personen« verschafften ihm besondere Einblicke, wie der Mensch tickt. Wie grätscht das Unbewusste, das Verdrängte in den Alltag, wie bringt es alles durcheinander? Man unterhält sich angeregt, und plötzlich dringt etwas nach oben, ins Bewusstsein, an das man

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