Sommer mit Nebenwirkungen
mit den Beinen durch die Luft, so, als bewältige sie im Hochgebirge einen Überhang. Dann lag schon das erste Bein auf dem flachen Vordach, sie zog ihren Oberkörper hoch, dann das zweite Bein hinterher. Geschafft!
Erstaunt schaute die Frau in Weiß zu ihr herüber. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sophie setzte sich neben sie.
»Hallo, ich bin Sophie«, sagte sie.
Die Frau grinste sie an. »Laura«, sagte sie und gab ihr die Hand. Jetzt, wo sie so nah beieinandersaßen, sah Sophie, dass Laura eine hübsche Frau war. Sie war ein dunkler Typ, mit kleiner Nase und einem herzförmigen Mund. Vielleicht war es auch ihr Gesicht, das ihr so etwas Mädchenhaftes verlieh, es wirkte ein wenig wie das einer Puppe. Ob es ihr wohl schwerfällt, älter zu werden?, ging Sophie durch den Kopf.
Laura lehnte sich nach vorne und schaute hinunter auf Sophies Balkon. »Respekt. Das hat bislang noch keine Ihrer Vorgängerinnen gewagt. Sie können gut klettern«, sagte sie.
»Früher habe ich viel trainiert, in den Bergen, aber auch in Kletterhallen. In den letzten Jahren weniger, der Job ließ es nicht zu. Aber gelernt ist gelernt«, sagte Sophie.
»Offenbar«, antwortete Laura.
Danach schwiegen beide einen Moment und schauten sich das Dolomitenpanorama an. Die tief stehende Sonne ließ die Konturen der Felsen jetzt scharf hervortreten, Felsvorsprünge hoben sich hell ab, Risse lagen dagegen in tiefem Dunkel. Jetzt, wo die Tageshelle wich, erkannte man, wie zerklüftet das Bergmassiv war. Sophies Blick löste sich von den Bergen, sie begann die unmittelbare Hotelumgebung zu betrachten.
Den alten Sanatoriumsbau samt Anbauten umgab von allen Seiten Wiese. Kein englischer Rasen mit genormter Halmlänge, sondern eine richtige Wildwiese. Das Gras wuchs hoch, dazwischen leuchteten bunte Punkte, die weit über die Fläche gesprenkelt waren. Gelber Löwenzahn wuchs hier, rote Mohnblumen, weiße Margeriten, dunkelblauer Schusternagel und dornige Disteln. Sogar einen Frauenschuh meinte Sophie am Rand zu entdecken. Durch das Gras führten Trampelpfade zu Gartentischen, die unter großen, schattigen Kastanienbäumen standen. Sie zählte insgesamt fünf Tische, die weit auf dem Gelände verstreut lagen und mit einladenden Sitzgelegenheiten ausgestattet waren, aber vermutlich gab es noch mehr. Eine kleine Gruppe von Frauen saß unter einem Baum, ihr Lachen war bis aufs Dach zu hören. Sophie meinte, große Gläser mit Aperol Spritz auf ihrem Tisch zu erkennen, und fand das irgendwie beruhigend. Insgeheim hatte sie schon Sorge gehabt, in Marienbrunn hätten womöglich durchgeknallte Gesundheitsapostel das Sanatorium übernommen und Alkohol sei, nun ja, nicht verboten, aber zumindest verpönt. So wie es in der Berliner Fruchtbarkeitsklinik ja auch nirgends Kaffee gab, aber mehrere Teebars mit stark riechenden Kräutertees. Was immer Mathilde Freud hier oben gefunden oder zu sich genommen hatte – man durfte dabei weiterhin ein Glas Wein trinken. Und Knabberzeugs essen, denn eine der Frauen griff gerade in eine Schale und warf sich die Nüsse oder was auch immer schwungvoll in den Mund. Die drei Aperol-Frauen schauten interessiert zum Dach hinauf. Redeten sie über Laura und Sophie? Ich würde es tun, dachte Sophie.
»Und warum sind Sie hier oben?«, fragte Laura in die Stille hinein. »Ich gehe davon aus, Sie sind keine normale Urlauberin. Sonst wären Sie vermutlich nicht zu mir hier hochgeklettert.«
»Kinderwunsch«, sagte Sophie frei heraus. »Ich habe gehört …«
Doch Laura unterbrach sie und kniff aufgeregt in Sophies Unterarm, um sie auf etwas aufmerksam zu machen. Mit gestrecktem Arm zeigte sie nach unten.
»Da kommt er. Ich wusste doch, auf ihn ist Verlass.« Sie schaute auf die Uhr und sagte danach etwas vorwurfsvoll: »Aber er ist knapp dran heute. Gleich wird der Gong ertönen.«
Sophie blickte nach unten und sah, wie ein Mann mit einer sehr langen Leiter über der Schulter um die Ecke bog und auf das Haupthaus zulief. Ein Wunder, dass er das Ding allein tragen konnte, denn der Mann war eher schmal gebaut. Dennoch, er schaffte es, die Leiter gut auszubalancieren. Sollte er wirklich zu spät sein, so merkte man es ihm nicht an, denn sein Gang war ruhig und gelassen, wenn auch entschlossen. Er war eher jünger, doch so genau konnte Sophie das nicht sagen, denn eine Schirmmütze verdeckte sein Gesicht. Wer trägt denn heute noch Schirmmützen? Und dann noch als Mann, ging es Sophie durch den Kopf. Fehlten nur noch die
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