Sommer mit Nebenwirkungen
einfach sein? Sie nahm die Treppe nach unten.
Das Hotel, stellte sich heraus, war am Hang erbaut worden. Dadurch hatte man eine weitere Etage, eine Art Hochparterre gewonnen. Dieser Teil war offenbar deutlich später ausgebaut worden als die Räume oben, denn die Ausstattung war hier nicht nur moderner, sondern auch sehr viel konventioneller. Statt weißem Marmor führte eine Treppe mit weinroter Hotelauslegware nach unten. Es roch wie in vielen anderen Hotels nach Putzmittel und künstlichem Lufterfrischer. Tatsächlich entdeckte sie ein Duftdepot, das automatisch alle paar Minuten seinen Wohlfühlgeruch in die Welt schickte, in einer Steckdose nahe der untersten Stufe. Dem Design nach zu urteilen, musste das Grundmotiv »Meer« sein. Ja, wirklich, es roch hier ein bisschen wie am Strand. Wie passend in den Bergen.
»Sigmund Freud« lag jetzt links. Niemand sonst lief hier unten entlang. Eine Vitrine mit hässlichem Schmuck stand an der rechten Wand, es waren grobe silberne Ketten mit Bergkristallen, die vor sich hin staubten. Natürlich samt einer Adresse, wo man den Schmuck erwerben konnte. Daneben hing ein Schild mit der Aufschrift »Sigmund Freud« an der Wand. Hinter dieser Tür musste es sein.
Sie klopfte, aber niemand antwortete. Vorsichtig drückte sie die Tür auf, die nicht verschlossen war. Was sie dahinter entdeckte, enttäuschte sie: Es war ein Konferenzraum. Mehr nicht. Er wirkte nicht so, als würde er häufig genutzt – die Luft war stickig, ein Overheadprojektor stand in der Ecke, die Tische waren U-förmig angeordnet, auf einem lag ein vergessenes Blatt. »Lernschwierigkeiten erkennen und vorbeugen – Kinder gezielt fördern« stand darauf, die Veranstaltung hatte vor fast acht Monaten stattgefunden. Seitdem schien hier niemand mehr gewesen zu sein.
»Sigmund Freud« war nur ein klangvoller Name für einen trostlosen Schulungsraum. Kein Hinweis auf Mathilde.
Der Rest der Hotelerkundung verlief ähnlich ernüchternd. Der Spa-Bereich war schön, aber nicht mehr als ein Hotel-Spa-Bereich. Es gab einen großen Außenpool und einen kleineren Pool innen, Liegestühle, zwei Saunen sowie eine klassische Schwitzhütte, und man konnte Hot-Stone-Anwendungen und Massagen buchen. Die Gäste wurden sowohl innen als auch außen direkt am Pool bedient. Auch dieser Bereich war erst später erbaut worden, er erfüllte alle Standards eines besseren Wellnesshotels, aber eine besondere Eigenart war nicht zu erkennen. Sophies Enttäuschung wuchs. Plötzlich merkte sie, wie viel Hoffnung sie in diese Reise gesteckt hatte. Sie wollte hier oben irgendeine Rettung finden – eine Alternative zu Berlin und der Hormontherapie. Bin ich ein dummes Schaf, dachte Sophie ärgerlich. Wie wenig reicht, um mich anzulocken. Eine vage Andeutung, und schon reise ich los. Ruhig, Sophie, sagte sie sich dann, du bist eben erst angekommen, und immerhin ist es hier schön.
Wenigstens die eigenwillige alte Liegehalle hob sich ab, sie war alles andere als klassischer Hotelstandard. Ein nach vorne hin offener Bau aus Holz, in dem man, in Decken eingewickelt, auf alten Holzliegen lag und in einen Tannenwald schaute. Das Dach schützte vor Regen, die Seitenwände vor Zug, sonst lag man eingemummelt an der frischen Luft. Aber außer Liegen und Decken konnte Sophie auch dort nichts Außergewöhnliches erspähen. Machte etwa allein die gute Bergluft die Frauen schwanger? Wohl kaum.
Zurück auf ihrem Zimmer, überlegte Sophie, was sie tun sollte. Es blieb immer noch etwas Zeit bis zum Abendessen. Sich umziehen vielleicht? Oder sich einfach auf den Balkon setzen und die Landschaft genießen? Während sie noch überlegte, fiel ihr Blick durch die geöffnete Balkontür auf das Bergpanorama, nur wurde das Bild der erhabenen Dolomiten diesmal gestört – durch ein paar Beine, die davor baumelten. Frauenbeine, lang und schön gebräunt, die Füße steckten in Riemchensandalen. Wo kamen die her? Unmittelbar über ihrem Zimmer begann doch das Dach.
Neugierig ging Sophie auf ihren Balkon, hielt sich am Holzpfosten fest, lehnte sich, so weit sie konnte, über die Brüstung und schaute nach oben. Dort saß tatsächlich eine Frau im weißen Kleid und ließ die Beine über die Dachkante hängen. Völlig ungeschützt saß sie da. Ein schöner, aber etwas gefährlicher Platz, um Beine und Seele baumeln zu lassen. Die Frau entdeckte sie jetzt und lächelte zu ihr hinunter, es war ein warmes Lächeln. Wie alt mochte sie sein? Um die vierzig wahrscheinlich.
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