Sommer mit Nebenwirkungen
Kachel drücken, nein, nicht nur eine – eine ganze Abfolge von Kacheln. Und dann öffnete sich eine Luke im Boden, die zu einem Geheimgang führte, einem archaischen Schrein unter der Erde, wo man zu den kommenden Babys betete. Das wäre ja wie in einem Gruselfilm. Die unheimlichen Babykatakomben von Marienbrunn.
Sophie musste grinsen und griff beherzt in den Brotkorb. Das Brot kam frisch aus dem Ofen, es roch würzig und war noch warm. Dazu gute, leicht gesalzene Butter oder selbst gemachter Schmand. Wie gut hier alles schmeckte. Während Sophie kaute, überlegte sie kurz, ob Brot womöglich eine fruchtbarkeitssteigernde Wirkung haben könnte. Nein, davon hatte sie auch noch nie gehört.
Sie goss sich noch etwas Wasser ein. Wie liebevoll hier alles serviert wurde – das alte Silberbesteck, matt gegriffen von Generationen von Gästen. Das schöne schwere Porzellan. Und als Höhepunkt das Wasser in einer geschliffenen Glaskaraffe. So ein schönes Glasgefäß wurde heute sicher nicht mehr hergestellt, sogar ein bisschen Blattgold war als Ornament aufgetragen worden. Auch das Weinglas war ausgesprochen schön, sehr dünnwandig – ein Wunder, dass es die vielen Jahre des Sanatoriums- und Hotelbetriebs überlebt hatte. Der Lagrein schmeckte samtig und voll, tiefrot schwang er im Glas. Diese Trauben hatten eine Menge Sonne gesehen. Nein, sie vermisste Berlin kein bisschen.
Käme sie bloß mit der Lösung des Rätsels weiter. Nach dem Essen würde sie diese Laura aufsuchen und sie nochmals befragen. Ganz direkt, ohne langes Geplänkel. Ihre Zeit war begrenzt, sie konnte den Urlaub nicht allzu lange ausdehnen. Die leeren Suppenterrinen wurden nun abgetragen, und Sophie schaute ins Menü, wie es weiterging. Als Hauptgang offerierte man Lamm mit Spinatknödeln oder Bachsaibling auf Weinkraut an. Die Entscheidung fiel ihr nicht schwer, zu einem gut gebratenen Lamm konnte sie nicht Nein sagen. Als Zwischengang bot man für alle ein Salatbuffet. Sophie blickte sich suchend um, hier war nirgends ein Buffet aufgebaut. Das musste in einem der anderen Räume stehen.
Die ersten Gäste schoben die Stühle nach hinten, standen auf und gingen in den benachbarten Raum. Sophie beschloss, es ihnen gleichzutun; ein Speisesaal-Kollektiv irrte schließlich nicht. Einige Paare liefen vor ihr her, meist mittelalte Edel-Touristen, Typ nachhaltiges Reisen. Die Ehefrauen waren entschieden zu alt, um noch schwanger zu werden. Wahrscheinlich wohnten die Kinder längst außer Haus, studierten, womöglich waren schon Enkelkinder im Anmarsch. Das Publikum enttäuschte sie ein wenig, es war so normal. Laura auf dem Dach, die wirkte wie ein Hinweis auf ein Geheimnis. Aber halbglatzige Herren in Bundfaltenhose, begleitet von ihren Ehefrauen in weiten Strickkombinationen? Die Familie mit den fünf Kindern drängte sich nun dazwischen, sie pressten sich alle durch die breite Tür zum nächsten Raum. Sophie fiel auf, dass die Eltern nicht miteinander redeten. Schon am Tisch saßen sie am entgegengesetzten Ende, die Frau permanent mit dem Nachwuchs beschäftigt, während der Mann lustlos in einer Zeitung blätterte. Wahrscheinlich hätte er normalerweise in seinem Handy gesurft, aber hier oben war ja kein Empfang. Wohin ging man wohl zum Telefonieren? Spätestens morgen musste sie sich erkundigen.
Passend zum Salatbuffet war der nächste Raum in einem heftigen Grün gehalten. Es wirkte ein wenig, als seien die Wände mit Grünkohlblättern tapeziert. Ein schöner, großer Raum. Und voller – Frauen. Da waren sie! Die meisten waren in ihrem Alter, Männer saßen hier nur vereinzelt. Hier war es deutlich lauter als im blauen Speisesaal nebenan. Es wurde geredet, gelacht und gerufen. Sie fühlte sich sofort zu Hause. Im Job hatte sie überwiegend mit Männern zu tun. Wann hatte sie zuletzt so viele Frauen auf einem Haufen gesehen? Bei Bauch-Beine-Po, der Problemzonengymnastik, ein schreckliches Wort. Hier oben fanden sich auch Frauen mit Problemzonen zusammen, nur war die Stimmung deutlich entspannter.
Am Salatbuffet staute es sich schon. Man stand hintereinander, dicht an dicht. In Sophie kam die Erinnerung an das »All-inklusive-Gefühl« eines Ferienressorts auf, dieses ungeduldige Vorbeischielen am Vordermann auf das, was wohl heute Abend auf dem Buffet angeboten wurde und wie schnell es sich leerte. Bei einem Salatbuffet war die Ungeduld nicht ganz so groß. Dabei konnte es sich wirklich sehen lassen. Ungewöhnliches Grünzeug wurde hier
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