Sommer mit Nebenwirkungen
Ihre Haare waren sehr dunkel, fast schwarz, sie hatte sie zu einem Kranz geflochten. Die Frisur, das weiße Kleid und die Riemchensandalen gaben der Frau etwas Mädchenhaftes.
»Hallo«, rief Sophie unsicher hinauf.
»Hallo!«, antwortete die Frau. »Sie sind also meine neue Untermieterin. Schön, Sie kennenzulernen.«
»Was machen Sie da oben?«, fragte Sophie.
»Ich genieße die Aussicht. Wissen Sie, mein Zimmer hat keinen Balkon. Das ist bei den oberen Etagen so. Wir wohnen im Zwerchhaus.«
»Zwerghaus?«, hakte Sophie nach.
Die Frau lachte. »Sie sind keine Architektin, was? Nein – Zwerchhaus. Schauen Sie, hinter mir, da liegen die Zimmer der Etage drei und vier. Als ob noch ein kleines eigenes Haus aus dem Dach wächst, nicht wahr? Oder wie eine zu groß geratene Dachgaube. Das nennt man Zwerchhaus. Meistens hat so ein Anbau ein Spitzdach, wie hier. Sehr schöne Zimmer, aber leider, leider kein Balkon. Also benutze ich den Dachvorsprung, das ist alles solide gebaut, keine Sorge. Von Statik habe ich Ahnung – ich bin Anwältin für Baurecht.«
Na, dachte Sophie, dann war der Vorsprung wohl wirklich solide. Trotzdem hatte man ihn bestimmt nicht als Aussichtspunkt für Hotelgäste gebaut, die so taten, als säßen sie im Freibad am Beckenrand und kühlten gerade ihre Beine im Wasser.
»Und die Leute vom Hotel? Was sagen die dazu? Will keiner Sie vom Dach herunterholen? Statik hin oder her – der Platz sieht ein wenig ungesichert aus.«
»Mich hier runterzuholen ist nicht leicht. Ich schließe die Zimmertür immer vorher ab und lasse den Schlüssel von innen stecken. Die Mädchen von der Rezeption kommen deshalb nicht rein. Aber gleich …« Sie schaute auf die Uhr. »Er ist heute spät dran.«
Eine Frau, die auf der Dachkante saß und sich das Bergpanorama anschaute. Also, normale Hotelgäste benahmen sich nicht so. Sophie hatte plötzlich das Gefühl, in diesem Hotel laufe tatsächlich etwas anders. Diese etwas verrückte Frau war ein weiteres Indiz.
»Wohnen Sie schon lange hier?«, fragte Sophie.
»Ich komme jedes Jahr«, antwortete die Frau, »und bleibe mindestens einen Monat. Manchmal auch länger.«
»Und warum tauschen Sie dann das Zimmer dort oben im Zwerchhaus nicht einfach gegen ein Zimmer mit Balkon? Davon scheint es doch genug zu geben«, erkundigte sich Sophie verwundert.
»Die Nummer 25 aufgeben? Das Zimmer! Ich bin doch die …« Die Frau schaute Sophie entrüstet an. »Sie haben keine Ahnung, wovon ich rede, oder?« Der letzte Satz klang zwar wie eine nüchterne Feststellung, aber Sophie spürte, darin lag eine Abfuhr. Was auch immer hier vorging – sie gehörte nicht dazu. Die Frau wandte sich ab und schaute wieder auf die Berge. Als sei die Audienz nun zu Ende.
Sie wusste etwas. Etwas, das Sophie wissen musste. Dringend!
»Hallo, Sie da oben«, rief Sophie hoch. »Hallo, he!« Doch die Frau in Weiß reagierte gar nicht. »Mist«, fluchte Sophie leise. Ob sie vielleicht … Prüfend sah sie sich ihre Balkonbrüstung, die Holzabstützung und den Übergang zum Dach an. Nicht nur das Dach, auch alles andere machte einen soliden Eindruck. Aufwendige Schnitzarbeiten zierten das Holz, was Sophie weniger ästhetisch als sportlich interessierte – Kerben, Rillen, hölzerne Leisten. Ein idealer Kletterparcours. Es wäre kein Problem, an den Stützen hochzusteigen. Saß sie erst mal neben der Frau, würde die schon mit ihr reden.
Sophie blickte hinunter in den Garten. Es war ein überschaubares Risiko, so hoch war das Hotel nun auch nicht. Unten achtete kein Mensch auf sie. Absurd, so lange war sie nicht mehr geklettert, und nun gleich zweimal hintereinander; erst im McDonald’s in Berlin und nun hier im Berghotel. Offenbar kam sie wieder auf den Geschmack – trotz der Beinahe-Katastrophe im Schnellrestaurant vor wenigen Tagen. Aber sie hatte ja auch auf dem Nordturm gespürt, wie sehr ihr die Höhe gefiel.
Entschlossen zog Sophie also ihre Sandalen aus, ging hinüber zu dem verzierten Holzpfosten, stieg auf die Balkonbrüstung und kletterte von dort nach oben. Wie leicht das ging. Es gab überhaupt nur eine schwierige Stelle bei diesem Parcours, den Übergang zum Dach. Sie griff mit der linken Hand hoch, während sie sich rechts am Holz festkrallte. Die Traufe war massiv und gut zu greifen, die Regenrinne lag nur auf. An der hätte Sophie nicht gewagt, sich hochzuziehen, aber so eine gut gebaute Dachkante, die fühlte sich verlässlich an. Einen kurzen Augenblick schwang Sophie
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