Sommer mit Nebenwirkungen
verletzte das ihr Ehrgefühl. »Professionell« – ein Wort wie ein Donnerhall. Sophie drückte Steffen Heinlein noch mal aufmunternd die Schulter und sagte leise: »Ich hole Ihnen jetzt einen Cappuccino, bin gleich wieder da.« Dann ging sie hinaus und ließ lautstark die Tür knallen.
Im Raum konnte man eine Stecknadel fallen hören.
2
Raus, bloß raus. Sophie brauchte frische Luft. Natürlich hätte sie sich auch in ihrem Büro verschanzen können, aber so ein Typ war sie nicht. Wütend drückte sie die Tür zum Treppenhaus auf. Die Geduld, auf den Fahrstuhl zu warten, brachte sie jetzt nicht auf, und die Vorstellung, womöglich zusammen mit anderen Personen in der engen Kabine zu stehen, war ihr zuwider. Sie nahm die ersten Stufen. Der Weg war nicht weit, es waren nur zwei Stockwerke bis oben auf das Dach.
Das Assessment-Center saß im vierzehnten und fünfzehnten Stock eines Hochhauses aus den Sechzigerjahren. Kein sehr schönes Gebäude, aber es lag gut. Direkt an der Potsdamer Straße, einer breiten Zentralachse Berlins, von den Berlinern maulfaul »Potse« genannt. Lange hatten Firmen diese Gegend, die für ihren harten Straßenstrich bekannt war, gemieden. Außer einem Sex-Kaufhaus, einem Möbelladen, einem Woolworth, unzähligen Dönerbuden und Sport-Wettbüros hatte sich über die Jahre niemand angesiedelt. Das änderte sich gerade, die Lage lud dazu ein. Fünf Minuten nach Mitte, fünf Minuten zum Ku’damm und das Herz Schönebergs in Spuckweite. Erst zogen die Kunstgalerien her, die sich die Auguststraße nicht mehr leisten konnten, dann die Start-up-Unternehmen und inzwischen auch etablierte Firmen wie das Assessment-Center. Im Hochhaus herrschte ein reges Kommen und Gehen der Mieter, und nach drei Jahren gehörte C&O schon zu den Alteingesessenen hier. Vor wenigen Monaten hatte Sophie die wunderbare Entdeckung auf dem Dach gemacht.
Die Tür nach draußen war wegen der Brandschutzbestimmung immer unverschlossen. Da lag er, gepflegt und in sich ruhend – ihr kleiner Zen-Garten. Sogar die Spuren ihrer Holzharke waren noch zu sehen, nur an drei Stellen hatten die Krähen von Berlin die Erde aufgewühlt. Sophie trat nach draußen und atmete tief ein. Sie liebte dieses Szenario, die kleinen Bäume, der Himmel über Berlin, dazwischen einige Abluftschächte und tief unter ihr das Dröhnen der Autos in der Potsdamer Straße. Der unablässige Autolärm war durchwoben von aggressivem Hupen, lautem Fluchen von Fahrradfahrern oder der anschwellenden Sirene eines vorbeifahrenden Krankenwagens. Dazwischen rumpelte die U-Bahn, die hier als Hochbahn fuhr. Aber so weit oben klang der Großstadtlärm ganz natürlich. Sophie ging hinüber zur kleinen Holzkiste und holte die Gartenschere heraus. Und die Gartenhandschuhe. Bislang war sie nie mit Dreck unter den Fingernägeln ins Büro zurückgekehrt, so konnte sie ihr Geheimnis bewahren.
Wer diesen Garten ursprünglich angelegt hatte, wusste sie nicht. Jemand mit Geld, das war klar. Denn solche Outdoor-Bonsais kosteten viel, oft um die zweitausend Euro. Bis vor einem halben Jahr residierten im Haus zwei größere Unternehmen für Wirtschaftsberatung, sprich Lobbyisten. Inzwischen waren sie näher ans Regierungsviertel gezogen. Sophie vermutete, dass einer der Chefs diesen Garten hatte anlegen lassen. Eine Zeit lang galt der Zen-Buddhismus als schick unter Spitzenmanagern. Manager unterlagen genauso dem Modediktat wie Leserinnen von Frauenzeitschriften. Mal fuhren die Spitzenkräfte auf die Schmetterlingstheorie ab (»Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Asien kann wenig später die Börse in New York zum Einsturz bringen!«), mal auf Survival-Camps (»Wir setzen Sie nur mit einem Messer bewaffnet in der kanadischen Wildnis aus – und Sie finden allein den Weg zurück. Diese Erfahrung wird Sie prägen und stärker machen.«). Vom Zen-Boom blieben nur einige Tonnen Sachbücher übrig, die man jetzt für fünfzig Cent auf Wühltischen kaufen konnte. Doch dieser Garten existierte weiterhin. Als Sophie ihn fand, verwilderte er gerade.
Die Entdeckung war reiner Zufall gewesen. Sophie konnte nicht richtig mit dem Rauchen aufhören, alle paar Wochen fiel sie in die schlechte Angewohnheit zurück und kaufte sich eine Schachtel Zigaretten. Und dann noch eine. Sie entspannte sich einfach gut beim Rauchen. Allerdings war Qualmen im Assessment-Center strengstens verboten, es wurde auch nicht auf den Balkonen geduldet. Normalerweise traten die Raucher den Gang nach unten
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