Sommer mit Nebenwirkungen
der Schläfe und schielte darauf. Nein, der Finger war blank. Er ist bestimmt nicht weg, beruhigte sie sich. Vielleicht lag er neben den Blumen, die Philipp ihr heute Morgen hingestellt hatte. Oder standen die doch gestern schon da?
Sophie seufzte tief.
»Ist irgendetwas?«, fragte Johann. »Du wirkst nicht gerade begeistert, mich zu sehen.«
Schnell ließ Sophie die linke Hand unter der Bettdecke verschwinden.
»Die Übelkeit«, meinte sie ausweichend. Langsam, ganz langsam erhob sie sich. Der Schmerz war bösartig.
Ein paar Minuten später stand sie unter der Dusche, Johann war murrend nach unten abgezogen. Ihr Kopf klarte auf. Der gute Doktor Freud hatte doch auch einmal Probleme mit seinem Verlobungsring gehabt, fiel Sophie ein. Freuds Verlobungsring zerbrach nach einer Operation – der Schmerz nach dem Eingriff war wohl so groß gewesen, dass der junge Freud vor Wut mit der Faust auf den Tisch gehauen hatte. Dabei war der Ring in zwei Teile zersprungen. Freud wäre nicht Freud gewesen, wenn ihn die Symbolik eines zerbrochenen Verlobungsrings nicht beschäftigt hätte. Ein Bild wie aus einem Traum. Seine Verlobte Martha Bernays – die zukünftige Frau Freud – wurde mit Fragen bombardiert. Ob sie ihn wirklich liebe? Ob es einen anderen gebe? Ob sich etwas zwischen ihnen verändert habe? Er quälte und plagte sich und seine Verlobte. Die hielt den Fragen stand. Nein, untreu sei sie nie gewesen. So kaufte Freud irgendwann einen neuen Ring, man heiratete nach vier Jahren, und die Ehe hielt bis zum Lebensende. Ob sie wirklich glücklich und ob Freud treu gewesen war? Darüber rätselten die Forscher bis heute.
Wäre Sophie ehrlicher mit sich selbst gewesen, dann hätte sie sich eingestanden, wie froh sie war, dass der Verlust des Verlobungsrings sie von anderen Dingen ablenkte. So musste sie nicht darüber nachdenken, was der Abend mit von Studnitz bedeutete. Es war nichts Ernstes gewesen, aber es hatte Spaß gemacht. Und sie vermied die Frage, warum bei der plötzlichen Ankunft von Johann keine rechte Freude bei ihr aufkommen wollte. Wie sollte man sich aber auch mit einem solchen Brummschädel freuen?
Neben der Blumenvase lag auch kein Ring.
Auf dem Weg zum Speisesaal machte sie bei der Rezeption halt. Womöglich hatte jemand das Schmuckstück gefunden und abgegeben? »Nein.« Die junge Frau schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir hätten einen Badeanzug, einen Regenschirm und die Hülle eines Smartphones. Aber keinen Verlobungsring, tut mir leid.«
Als sie den Speisesaal betrat, musste sie Johann nicht lange suchen. Es saß an einem der besonders großen Fenstertische, einem der Plätze mit dem schönsten Blick. Das war sein Ausdruck von Fürsorge – den Platz in der ersten Reihe des Theaters zu besorgen oder den Sitz mit der größten Beinfreiheit im Flugzeug zu buchen, weil der Transatlantikflug elend lang war. Johann mochte in wilder Natur verloren sein, im Dschungel der Dienstleistungsgesellschaft fand er sich instinktiv zurecht. Er kannte die geheimsten Konsum-Schleichpfade, wusste, wo die Upgrade-Stiegen nach oben führten, fand Schutz in den Komfort-Höhlen der schönsten Spas der Welt. Er bewegte sich sicher im urbanen Leben. Deshalb saß er genau an diesem Tisch – und an keinem anderen. Sophie allerdings war alles egal. Kaffee und ein herzhaftes Frühstück hätte sie auch in einer Besenkammer eingenommen. Auch die Berge da draußen waren ihr im Moment vollkommen gleichgültig.
Johann wirkte kurz enttäuscht, machte dann aber der Kellnerin ein diskretes Zeichen. Er hatte also schon für sie vorbestellt. Bald darauf standen ein dampfendes Rührei mit viel Speck, ein Cappuccino und ein frisch gepresster Orangensaft vor Sophie. Dazu die übliche Karaffe Wasser.
Mit jedem Bissen und jedem Schluck stabilisierte sich ihr Magen. Die Kopfschmerzen waren zwar immer noch bohrend, aber sie zogen sich in die linke vordere Hälfte des Schädels zurück. Das machte sie zumindest lokalisierbar. Sie trank ein Glas Wasser.
»Ah, das berühmte Wunderwasser.« Aus Johanns Stimme hörte man die Ironie unschwer heraus.
»Es ist normales Wasser, du kannst es auch trinken«, sagte Sophie müde.
»Werde ich dann schwanger?«, erkundigte sich Johann.
»Ha, ha. Wenn das so wäre, hätte dein Sportsfreund Dr. Kemper die Quelle sicherlich schon gekauft«, antwortete Sophie.
Das war wohl das Stichwort. Denn erfreut zog Johann sein iPad hervor.
»Gut, dass wir darüber sprechen. Dr. Kemper …«, sagte er, »…
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