Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
Augenwinkel sah sie etwas. Uniformierte Polizisten. Sie schauten sich auf dem überfüllten Platz um, ganz offensichtlich waren sie auf der Suche nach jemandem. Einer von ihnen hatte seine Hand auf dem Holster seiner Waffe liegen.
Claire packte Ross bei den Schultern und drehte sich so zu ihm, dass sie sich hinter seinem großen, soliden Körper verstecken konnte. Vergib mir, dachte sie trotz allem, was sie eben noch behauptet hatte. Aber das hier war die schnellste Art, ihr Gesicht zu verbergen. Während sie sich an ihn drückte, wünschte sie, sie könnte für immer in seinen Armen bleiben.
Stattdessen beobachtete sie ihre Umgebung aus zusammengekniffenen Augen. Zu ihrem Entsetzen gingen die Polizisten ins Krankenhaus.
Sie riss sich von Ross los. „Ich muss weg.“ Sie eilte zum Haupteingang. Einer ihrer ehemaligen Patienten war in diesem Krankenhaus gewesen, sodass sie den Weg zur Intensivstation gut kannte. Zu ihrer Erleichterung gingen die Cops zur Notaufnahme,die in entgegengesetzter Richtung lag.
Ross war direkt hinter ihr. „Claire, du benimmst dich verrückt!“
„Ich bin hier, um einen kranken Freund zu besuchen, wenn du es unbedingt wissen willst.“
„Du hast keine Freunde“, gab er zurück. „Glaub mir, ich habe es überprüft.“
„Du hattest kein Recht, mich auszuspionieren.“ Sie kämpfte gegen eine frische Welle Tränen an.
„Wie bitte?“ Er lachte ungläubig auf. „Verstehst du es denn nicht? Ich liebe dich, Claire! Ich will alles über dich wissen. Und ich werde dich nirgendwo mehr hingehen lassen.“
Es war das Ich liebe dich , das sie zusammenbrechen ließ. Sie taumelte gegen ihn. „Das musst du aber“, sagte sie, obwohl sie nicht aufhören konnte, sich an ihn zu klammern. „Du musst mich gehen lassen.“ Sie wusste, er würde es nicht tun. Nicht Ross. Er war die personifizierte Loyalität; das war es, was sie an ihm so liebte. Ja, liebte. Sie würde sich nichts mehr vormachen. Sie dachte daran, wie sicher und geschützt sie sich in seinen Armen gefühlt hatte. Wie klug er war, wie sehr sie ihm vertraute.
Die Welt schien in den Hintergrund zu rücken. Sie sah weder Besucher noch Krankenhauspersonal vorbeigehen, hörte nicht das Klingeln des Aufzugs oder die Aufrufe über die Lautsprecheranlage und auch nicht den Rettungshubschrauber in der Ferne. Sie sah nur Ross und die Art, wie er sie anschaute, erwartungsvoll, eindringlich.
Mit Bedacht zog sie ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und trocknete sich die Tränen. Was, wenn sie ihm erzählte, wer sie wirklich war, und er dann seine Meinung über sie ändern würde? Andererseits, wie könnte es je etwas Echtes zwischen ihnen geben, wenn sie ständig über ihre Vergangenheit log? Als ihre Tränen weggewischt waren, hatte sie sich entschlossen, ihm alles zu erzählen, komme, was wolle. Man kann niemals dem entfliehen, wer man wirklich ist, bemerkte sie.Man kann seinen Namen ändern. In ein neues Haus ziehen. Sich eine neue Geschichte über sich ausdenken. Aber die Person, die man tief im Inneren war, konnte sich nicht ändern. Sie hatte Bedürfnisse und Sehnsüchte, die sie schließlich immer wieder einholen würden. Sie hatte ein Herz, das nichts dagegen tun konnte, sich zu verlieben. Die fürchterliche Wahrheit war, sie konnte nicht mehr allein weitermachen. Nicht nachdem sie Ross kennengelernt hatte.
„Ich muss nach jemandem sehen“, sagte sie sanft und machte sich auf die Suche nach der diensthabenden Schwester. Man erwartete, dass Mel sich erholen würde, doch er war in ein künstliches Koma versetzt worden und hing an der Beatmungsmaschine. Als sie neben Ross stand und durch die dicke Glasscheibe in das Krankenzimmer schaute, erkannte sie die zugedeckte Gestalt nicht, die von Schläuchen und Maschinen umgeben war. „Er ist in meinem Leben das, was einem Freund am nächsten kommt“, erzählte sie leise. „Und das hier ist ihm meinetwegen geschehen.“
„Wie bitte?“
„Es gibt einen Grund, warum ich keine Freunde habe“, flüsterte sie.
Die Oberschwester scheuchte sie in Richtung Ausgang. „Sie können gerne anrufen und sich nach ihm erkundigen“, bot sie an.
Draußen nahm Ross Claire bei den Schultern und musterte sie eindringlich. „Ich gehe nirgendwohin.“
„Aber dein Großvater …“
„Hat mich bereits gewarnt – ich soll ja nicht ohne dich zurückzukommen, Claire. Hör zu, was immer auch passiert ist … du kannst es mir sagen.“
Sie schluckte schwer. „Menschen, die mir nahestehen, neigen
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