Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
nicht verübeln. Möchten Sie sich zu mir setzen?“
„Danke, gerne.“ Er setzte sich. „Was für ein herrlicher Morgen! Machen Sie hier Urlaub?“
„Meine verheiratete Großnichte und ihr Ehemann haben mich überredet, herzukommen. Ich habe mal erwähnt, dass ich als Kind und junge Frau meine Sommer im Camp Kioga verbracht habe, und so bestanden sie darauf, dass ich diesen Ort noch einmal besuche. Wie sich herausstellte, bietet das zu neuem Leben erwachte Resort einen fünfzigprozentigen Rabatt für alle, die früher im Camp Kioga Urlaub gemacht haben.“ Sie schenkte ihm ein charmantes Lächeln. „Ich liebe Rabatte. Das gefällt mir am meisten daran, Rentnerin zu sein.“
George lachte unterdrückt. Sie gefiel ihm von Minute zu Minute besser. „Dann haben wir ja etwas gemeinsam. Ich bin hier auch immer hergekommen. Das ist allerdings schon sehr lange her.“ Die Frau hatte seine Neugierde geweckt. Ihm gefielen ihre warmen, braunen Augen und das schelmische Lächeln. Er warf einen schnellen Blick auf ihre Hand. Kein Ehering.
Er hatte sich wohl nicht sonderlich diskret angestellt, denn sie strahlte ihn offen an. „Ich war nie verheiratet. Ich schätze, das macht mich zu einer professionellen alten Jungfer.“
„Ich bin Witwer“, erwiderte er. „Und mir hat der Begriff alte Jungfer noch nie recht gefallen. Ihm haftet so etwas Einsames, Unattraktives an, und Sie scheinen mir weder noch zu sein.“
„Danke sehr. Und nur fürs Protokoll, ich habe auch nicht wie eine Nonne gelebt, also stimmt der Begriff sowieso nicht.“
„Dann sollte ich besser Ihren wirklichen Namen erfahren.“
„Millie. Millicent Darrow“, sagte sie.
Eine Erinnerung regte sich in Georges Kopf. „Millie Darrow! Ich hätte dich erkennen müssen! Wir sind uns zu Collegezeiten begegnet. Du gingst mit deiner Schwester Beatrice aufs Vassar.“
„Ja, das stimmt. Ich habe 1956 meinen Abschluss gemacht.“ Sie beugte sich ein wenig vor und schaute ihn gründlich an. „George? George Bellamy?“
„Schön, dich zu sehen, Millie!“
Sie nahm ihren Sonnenhut ab und fächelte sich damit Luft zu. „Das ist ja wirklich außergewöhnlich. Was für eine Überraschung! Und was für ein unglaubliches Geschenk.“
Sie hatte ja keine Ahnung! Sie war seit Monaten der erste Mensch, der nicht wusste, dass George krank war. Das gefiel ihm. „Du siehst wunderbar aus, Millie.“
„Du auch. Wie geht es deinem Bruder Charles?“
Es war zu kompliziert, die Situation zu erklären, also sagte George nur: „Ihm geht es gut. Danke der Nachfrage.“
„Ich fand ja immer, dass du der Gutaussehende von euch beiden warst.“
„Lügnerin!“, sagte er lachend.
Sie setzte den Hut wieder auf. „Das ist die reine Wahrheit, George Bellamy.“
„Und ich fand, dass du die Süße warst!“
„Wie lange bleibst du hier?“, wollte sie wissen.
„So lange wie möglich.“ Er spürte, wie sein Herz ungebeten ins Taumeln geriet. „So lange ich nur irgend kann.“
5. KAPITEL
D a Ross Bellamy einen Antrag auf beschleunigte Entlassung aus der Army gestellt hatte, sollte er eigentlich schneller nach Hause befördert werden. Dennoch kam ihm die Heimreise endlos vor. Nach der Abschlussbesprechung in Fort Shelby, Alabama, wurde er endlich seiner Wege geschickt. Im zivilen Flugzeug nach Newark fühlte er sich fremd. Die normale Welt war ihm nach so vielen Monaten im Dienst überhaupt nicht mehr vertraut. An Bord waren einige Soldaten, und sie plapperten auf dem Weg unentwegt, aufgedreht durch die Anspannung und die Vorfreude auf ihre Rückkehr in ein ziviles Leben.
Ross saß in der Notausgangsreihe zwischen zwei anderen Soldaten – einer Frau, die noch nicht ganz einundzwanzig war, und einem Mann Mitte dreißig, der den ganzen Flug über trank und redete; seine Gedanken kreisten offensichtlich nur um den Geschmack von Bier und seine Freundin namens Rhonda.
„Ich weiß nicht, warum ich so aufgeregt bin“, gestand er. „Wir haben oft per Skype oder E-Mail Kontakt gehabt, also ist es nicht so, als hätten wir uns die ganze Zeit über nicht gesehen. Ich schätze, es ist einfach, weil ich sie jetzt live sehe, oder? Dafür gibt es einfach keinen adäquaten Ersatz.“
„Was mich freut“, sagte die Soldatin. „Man will ja nicht alles durch Technologie ersetzen lassen, stimmt’s?“
Ross blätterte in einer alten Ausgabe des New Jersey Star Ledger . Bandenmorde, Sportberichte, kommunale Nachrichten. Sein Blick blieb an einer Schlagzeile über das Büro des
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