Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
wollte nicht mehr wissen. Wenn sie eine zu enge Verbindung zu ihm einginge, würde er ins Visier des gleichen Monsters geraten, dassie zum Untertauchen gezwungen hatte.
„Wohnst du hier im Resort?“, fragte sie.
„Ja, sicher! Hast du eine Ahnung, was die hier pro Nacht verlangen?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe mir einen Tagesausweis besorgt.“
„Wo wohnst du dann?“
„Nicht weit von hier gibt es einen öffentlichen Campingplatz. Er heißt Woodland Valley.“
Sie schaute ihn verwundert an. „Du zeltest?“
„Ja, ich zelte.“
„So richtig mit Schlafsack im Zelt?“
„Ja, genau so.“
Sie versuchte, sich ihn in einem Zelt in der Wildnis vorzustellen. „Und wie … ist das so für dich?“
„Ich bin nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um mich auslachen zu lassen.“
Sie hörte einen besorgten Unterton in seiner Stimme. „Was ist los?“
„Ich habe Neuigkeiten. Sie werden dir allerdings nicht gefallen.“
Sie wappnete sich gegen das, was jetzt kommen würde. „Erzähl’s mir einfach.“
„Die Jordans haben sich wieder als Pflegeeltern beworben.“
Obwohl es ein so heißer Tag war, überlief Claire eine Eiseskälte, die ihr den Atem nahm. Ihr Mund wurde ganz trocken; sie musste ein paar Mal schlucken, bevor sie wieder sprechen konnte. „Um Himmels willen! Zwei Morde und ein drittes Kind, das vermisst wird – und das alles unter ihrer Aufsicht! Interessiert das denn niemanden? Das Jugendamt wird das doch wohl auf keinen Fall zulassen, oder?“
Mel war still. Zu still.
„Oder?“, fragte sie noch einmal.
Er starrte aufs Wasser hinaus. „Ich habe mit ungefähr einem halben Dutzend Leuten im Jugendamt gesprochen.“
„Und?“
„Offensichtlich bin ich in ihren Augen nur ein armer Irrer.“
„Es war riskant von dir, mit dem Finger auf Vance Jordan zu zeigen“, sagte sie. „ Ich bin diejenige, die vor ihm warnen sollte, nicht du.“ Sobald die Worte ausgesprochen waren, merkte sie, dass die Entscheidung bereits getroffen war. Schon seit einer ganzen Weile dachte sie darüber nach, ihrem Exil ein Ende zu setzen. An einen Ort wie diesen zu kommen, hatte ihren Entschluss nur schneller reifen lassen. „Es ist an der Zeit, Mel. Ich kann das hier nicht mehr. Ich habe es satt, immer zu warten.“
„Claire – Clarissa. Er hat zu viele Freunde in den oberen Etagen, und die, die nicht seine Freunde sind, haben Angst vor ihm. Dich jetzt zu zeigen, würde gar nichts bringen.“
Es war gut möglich, dass er recht hatte, aber der Gedanke, dass Jordan ein weiteres Pflegekind anvertraut würde, drehte ihr den Magen um. „Ich finde einen Weg“, sagte sie. „Auf meine Weise.“
„Wir müssen über das Risiko sprechen …“
„Deshalb will ich, dass du dich da raushältst. Sieh mal, ich tue das für mich, okay? Ich muss endlich aufhören, zu fliehen.“ Es hatte vielleicht eine Zeit gegeben, in der sie ihr Leben im Verborgenen akzeptiert hatte, aber diese Zeit war jetzt vorüber. Sie konnte einfach nicht mehr. Anstatt leichter zu werden, war es immer schwerer, sich zu verstecken. Innerlich starb sie jeden Tag ein wenig mehr, löste sich immer weiter auf. Ihre Mutter war ganz allein auf der Welt gewesen, und Claire war überzeugt, dass sie nur aus dem Grund so verantwortungslos gelebt hatte und früh gestorben war.
Claire hatte von Zeugen in Schutzprogrammen gehört, die aus der Versenkung aufgetaucht waren, nur um dann umgebracht zu werden. Die Leute fanden das dumm, aber sie verstand, warum sie nicht für immer anonym bleiben konnten.
„Das lasse ich nicht zu!“, sagte Mel entschieden, bevor er sie bat: „Warte noch ein bisschen, ja? Ich finde einen Weg.“
Sie nickte, als würde sie ihm zustimmen. Dann trennten sichihre Wege wie bei einem heimlichen Liebespaar. So verliefen alle ihre Treffen. Es war besser, wenn sie nicht zusammen gesehen wurden. Sie wusste, dass er wütend auf sie war, weil sie sich in den Jordan-Fall einmischen wollte, aber er musste gewusst haben, dass sie nicht tatenlos zusehen würde, wie Vance Jordan erneut der Pflegevater eines Kindes wurde. Es gab eine neunzigtägige Frist, bevor eine Bewerbung angenommen oder abgelehnt wurde. Neunzig Tage, um einen Weg zu suchen, das, was sie wusste, an die Öffentlichkeit zu bringen – und jemanden zu finden, der ihr glaubte.
Die Aussicht war genauso aufregend wie Furcht einflößend. Mel hatte immer betont, dass die Erfolgschancen sehr gering waren – ganz im Gegensatz zu dem Risiko, sich plötzlich wieder
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