Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
ist vermutlich nichts gebrochen.“
„Das ist wohl das Gute daran, dass du Krankenschwester bist.“ Seine Stimme klang durch die ungewöhnliche Kopfhaltung gedämpft. „Du kannst jemanden in Grund und Boden treten und ihn danach wieder zusammenflicken.“
„Ich habe nur das getan, was mir beigebracht wurde. Und zwar von dir. Kämpfen, rennen, später Fragen stellen, aber die Antworten nicht glauben. Das hast du doch immer gesagt, oder?“
Er nickte, ohne den Kopf zu heben.
„Wie schlimm ist der Schmerz? Nimmt er langsam ab?“
„Das kommt darauf an“, erwiderte er. „Was passiert, wenn ich Nein sage?“
„Dann musst du dich von einem Arzt durchchecken lassen. Eine Ultraschalluntersuchung kann zeigen, ob du einen Hodenbruch hast.“
„Einen Bruch? Einen Bruch ?“
„Falls ja, müsste man es operieren. Mel, es tut mir so leid!“
„In diesem Fall lässt der Schmerz langsam nach.“
Sie zuckte zusammen, als sie sah, wie er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er war der einzige Mensch, der die stille, fleißige Clarissa Tancredi der Vergangenheit mit der heutigen Claire Turner in Verbindung bringen konnte.
Und ausgerechnet ihm hatte sie gerade in die Eier getreten.
„Tut mir leid, dass ich dich genau da erwischt habe“, sagte sie.
„Ich brauche kein Mitleid“, entgegnete er. „Wäre nicht ausgerechnet ich das Ziel gewesen, würde ich sagen, dass ich stolz auf dich bin.“ Er hob den Kopf, und sie betrachtete sein Gesicht. Offene Gesichtszüge, freundliche Augen, eine herbe Schönheit, die in seiner Jugend vermutlich ausgeprägter gewesen war. Es war ein gutes Gesicht, aufgeschlossen und vertrauenswürdig. In Claires Leben gab es nur wenig, wofür sie dankbar war, und Mel Reno gehörte definitiv dazu.
Langsam rappelte er sich auf und humpelte zum Wegesrand, wo er sich am Ufer des Sees auf den Boden setzte. „Auf jeden Fall vielen Dank für die herzliche Begrüßung“, sagte er.
„Was hast du dir nur gedacht?“, fragte sie genervt. „Und was tust du überhaupt hier? Ist alles in Ordnung?“
„Gib mir noch eine Minute.“ Er schlang seine Arme um die angezogenen Knie.
Sie betrachtete ihn und war erleichtert, dass seine Gesichtsfarbe und seine Atmung sich langsam normalisierten.
Er atmete noch einmal tief ein und entspannte sich ein wenig. „Ich habe dich gestern angerufen. Wieso hast du nicht zurückgerufen?“
„Ich hatte zu tun. Es tut mir leid.“
Er runzelte die Stirn. „Das sieht dir gar nicht ähnlich.“
„Na ja, aber es ist auch kein Grund, mich hier aufzusuchen, oder?“ Sie hielt ihn immer auf dem Laufenden, wo sie sich befand. Ansonsten würde er sich nur Sorgen machen.
„Ich hatte irgendwie Lust, mir den Ort mal anzuschauen. Ist verdammt nett hier.“
„Ich bin heute Morgen aufgewacht und dachte, ich befände mich mitten in einer …“ Sie brach ab. Er würde sie für verrückt erklären, wenn sie etwas von einer verzauberten Welt erzählen würde. „An einem besonderen Ort.“ In der Ferne landete ein Wasserflugzeug und schlitterte wie eine Libelle über die Seeoberfläche.
„Bei meiner Herkunft vergesse ich immer, dass es Plätze wie diesen auf der Welt gibt“, gestand er.
Mel war ein pensionierter Federal Marshal. Er hatte eine ziemlich wilde Vergangenheit und lebte jetzt alleine in einem leicht heruntergekommenen, aber ruhigen Viertel von Newark. Er war erwerbsunfähig und hatte sich ganz der Aufgabe verschrieben, sich um Leute wie Claire zu kümmern – Zeugen, die sich vor etwas, das zu groß war, um alleine damit klarzukommen, versteckten oder flohen. Er war Experte darin, Menschen eine neue Identität und neue Papiere zu verschaffen, und als sie sich in ihrer Verzweiflung an ihn gewandt hatte, hatte er sie mit allem versorgt, was nötig war: einem Namen von einer Toten, einem neuen Lebenslauf und legalen Papieren. Alle ihre Papiere waren echt – die Geburtsurkunde, der Führerschein, ihre Sozialversicherungskarte. Dank Mel war sie wiedergeboren worden und hatte eine zweite Chance im Leben erhalten.
Doch auch wenn sie ihn seit Jahren kannte, kannte sie ihn nicht wirklich. Er ging ganz darin auf, Leuten zu helfen, die sich in der Schattenwelt der Anonymität aufhielten. Sie hatte ihn einmal gefragt, wieso er sich mit Leuten wie ihr überhaupt abgab. Daraufhin hatte er ihr erzählt, dass er einst damit beauftragt gewesen war, eine ganze Familie zu beschützen. Die Zeugen waren alle getötet worden.
Danach hatte Claire ihn nichts mehr gefragt. Sie
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