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Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens

Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens

Titel: Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Wiggs
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produzierte Artikel nach Artikel und deckte dabei die ganze Bandbreite an Themen ab, von der Museumseröffnung über Staatsbesuche bis zu gewalttätigen Ausschreitungen.
    Er gab alles, um Jonas Salk interviewen zu dürfen. Gemeinsam mit dem Wissenschaftler saß er im Hotel Prince de Galles und sprach mit ihm darüber, wie er die Polio-Impfung entwickelt hatte.
    Er erzählte Dr. Salk nicht, dass er selber Polio gehabt hatte, denn er wollte das Interview auf einer professionellen, nicht einer persönlichen Ebene führen. Aber am Ende ihrer Unterhaltung, als sie sich die Hände schüttelten und der Fotograf der Zeitung ein Foto von ihnen machte, drehte Dr. Salk Georges Hand um, sodass die Handfläche nach oben zeigte.
    Da war das verräterische Zeichen, das so subtil war, dass es niemandem auffiel – außer einem Experten. In einer nicht betroffenen Hand war der Muskel an der Daumenwurzel dick und gesund. An Georges Hand war er kaum vorhanden.
    Dr. Salk fragte nur: „Wann?“
    „Im Sommer 1944“, erwiderte George. Er war überrascht, einen Nachhall der Gefühle von damals in sich zu verspüren. Panik, Wut und Trauer, nachdem ihm bewusst geworden war, dass er sich eine Krankheit eingefangen hatte, von der er sichnie wieder komplett erholen würde.
    „Das tut mir sehr leid“, sagte Dr. Salk.
    Georges Gedanken wanderten zur Station 8 in der Polio-Klinik, in die er in dem Versuch geschickt worden war, sein Leben zu retten. So deutlich, als wäre es gestern gewesen, hörte er die Schreie der anderen Jungen, die gerade aus dem OP zurückgebracht wurden, die herzzerreißenden Schluchzer der Eltern, denen gesagt wurde, dass ihr geliebtes Kind in der Nacht verstorben war. Und immer, wie ein Albtraum, dem er nicht entkommen konnte, hörte er das rhythmische Saugen und Pumpen der Eisernen Lunge.
    „Ich war einer der Glücklichen“, erwiderte er.
    Im Dezember erhielt George einen Brief auf dem persönlichen Briefpapier seiner Mutter. Anrufe über private Telefone waren selten, weil die Verbindung meistens so schlecht war. Dadurch freute sich George jedes Mal auf die Briefe seiner Eltern. Von Charles hatte er kein Wort mehr gehört; offensichtlich hielt sein Bruder Wort, dass er George so lange nicht verzeihen würde, bis der sich entschuldigt hatte.
    So erfolgreich und unermüdlich er als Journalist war, so unzureichend war George als Briefeschreiber. Es machte ihm keinen Spaß, über sich selbst zu schreiben. Er hatte Charles am Tag der Hochzeit ein Telegramm geschickt. „Flug verpasst. Hochzeitsfeier muss ohne mich stattfinden. Beste Wünsche.“
    Das war ihre letzte Kommunikation gewesen.
    George fiel es erstaunlich leicht, seinem Bruder aus dem Weg zu gehen, und offenbar ging es Charles genauso. Alles, was George über ihn wusste, erfuhr er über die wöchentlichen Briefe seiner Mutter. Und Theodosia Bellamy hatte wenig genug über ihren jüngsten Sohn zu sagen, nur dass es ihm wohl ganz gut ginge und er seine Prüfung zum Anwalt geschafft hatte.
    Charles. Ein Anwalt.
    George fragte sich, welche Art von Anwalt er wohl war. Erkönnte seinen Bruder verklagen wegen Bruch der … was? Bruch der Bruderschaft?
    Im Dezember gab es dann unerwartete Neuigkeiten. Charles und seine Frau hatten einen Jungen bekommen. Sein Name war Philip Angus Bellamy – zu Ehren seiner beiden Großväter.
    Anfangs spürte George nichts weiter als einen kleinen Stich der Neugierde. Keinen Neid, natürlich nicht; er war kein großer Freund von Babys. Sie schienen ihm laute, spuckende, rotznäsige kleine Dinger zu sein, die den Menschen den Schlaf raubten. Nein, danke.
    Später, als er draußen an einem Tisch seiner liebsten Bar in Montmartre saß, kalten, beißenden Pastis trank und Le Monde las, kam ihm ein verspäteter Gedanke. Er trommelte mit den Fingern auf die emaillierte Oberfläche des Tisches.
    Charles und Jane hatten im August geheiratet.
    Ihr Sohn war im Dezember geboren.
    Seine Finger klopften weiter auf den Tisch. Tap, tap, tap, tap … tap.
    August, September, Oktober, November … Dezember.
    Eine Schwangerschaft dauerte länger als fünf Monate, oder?
    Zumindest wenn man keine nubische Ziege war. Augustseptemberoktobernovemberdezember …
    Es war nicht ungewöhnlich, dass Babys zu früh auf die Welt kamen. Aber doch keine vier Monate. Das war einfach unmöglich. Vor allem, weil Georges Mutter berichtet hatte, dass Philip ein gesunder Junge von acht Pfund war.
    Natürlich war es unhöflich, nachzurechnen, aber George tat es trotzdem.

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