Sommer unseres Lebens - Wiggs, S: Sommer unseres Lebens
wie diesen wagte – klein und altmodisch, beinahe mehr wie eine Zeichnung in einem Märchenbuch als wie ein realer Ort. Ein Ort, in dem die ungezähmte Natur ihre Schönheit entfaltete und idyllische Farmen und rot gestrichene Häuser standen.
„Avalon“, sagte sie, als sie ein weiteres Willkommensschild passierten. „Ich frage mich, ob die Stadt nach der Artussage benannt wurde.“ Als Teenager war sie ganz versessen gewesen auf die Artussage. Eine ihrer Pflegemütter, eine Englischlehrerin, hatte ihr beigebracht, tief in eine Geschichte einzutauchen und aus ihr zu lernen.
„Die Gründer der Stadt hatten diese Geschichte bestimmt im Kopf“, nickte George. „Avalon war der Ort, den Artus zum Sterben aufgesucht hat.“
„Nicht ganz. Es ist die Insel, auf der Excalibur geschmiedet wurde und auf die man Artus gebracht hat, damit er sich von den Wunden seiner letzten Schlacht erholt.“
„Ah, aber ist er je wieder gesund geworden?“
Sie warf ihm einen Blick zu. „Bisher nicht.“
Das Erste, was sie tat, wenn sie an einen neuen Ort kam, war, die Umgebung zu erkunden. Es war ihr zur zweiten Natur geworden, eine Fluchtroute auszuspähen. Seit sie ein Teenager war, war die Welt für sie gefährlich, und Avalon bildete da keine Ausnahme. Für die meisten Menschen repräsentierte eine Stadt wie diese das amerikanische Ideal – die geschrubbten Fassaden und die beruhigende Natur. Von Bäumen gesäumte Alleen führten in das charmante Stadtzentrum, wo die Menschen auf frisch gefegten Bürgersteigen umherschlenderten und in aller Ruhe die Auslagen in den Schaufenstern betrachteten.
Auf Claire wirkte die Stadt so abschreckend wie der Randeiner Klippe. Ein falscher Schritt könnte ihr letzter sein. Sie spürte bereits, dass es hier schwieriger war, sich zu verstecken, vor allem jetzt, wo sie schon von den Gesetzeshütern begrüßt worden war.
Sie merkte sich die Lage des Bahnhofs und schaute sich den Marktplatz genau an, der gesäumt war von einladenden Läden und Restaurants, über deren Fenstern sich gestreifte Markisen bogen. Es gab ein hübsches, gemauertes Gebäude inmitten eines Parks – die Bibliothek von Avalon. In der Ferne glitzerte der See, so ruhig und unberührt wie ein Postkartenmotiv.
Es war später Nachmittag, und die schräg fallenden Sonnenstrahlen verlängerten die Schatten und verliehen der Szenerie den goldenen Glanz vergangener Zeiten. Alte Backsteingebäude, von denen einige reich verzierte Fassaden hatten, trugen das Datum ihrer Erbauung – 1890, 1909, 1912. Das Schwarze Brett der Gemeinde verkündete den Termin für das Eröffnungsspiel des Baseballteams der Hornets, das mit einem großen gemeinsamen Barbecue eingeläutet wurde.
„Sind Sie ein Baseballfan?“, fragte sie.
„Oh ja. Einige meiner liebsten Erinnerungen sind die Besuche im Yankee-Stadion mit meinem Vater und Bruder. Ich war 1950 dabei, als die Yankees gegen die Phillies die World Series gewannen. Yogi Berra hat in dem Spiel einen unvergesslichen Homerun geschlagen.“ Über seine Augen legte sich ein wehmütiger Schleier. „Wir haben Harry Truman jedes Jahr den ersten Pitch der Saison werfen sehen. Wenn ich mich recht erinnere, hat er je einen mit jeder Hand geworfen. Ich habe oft davon geträumt, den ersten Ball zu werfen. Doch leider hat sich mir die Chance nie geboten.“
„Schreiben Sie es auf Ihre Liste, George“, schlug sie vor. „Man kann nie wissen.“
Sie kamen an der Bank und der Kirche vorbei. Es gab ein paar Boutiquen, ein Sportgeschäft und einen Buchladen, der Camelot Books hieß. Außerdem sah sie einen Blumenladen namens Zuzus Blütenblätter, und über einem weiteren Ladenhing ein großes Banner, das die Eröffnung von Yolandas Brautmoden verkündete. In einigen der Obergeschosse der Gebäude befanden sich Büros und Praxisräume – ein Kinderarzt, ein Anwalt, ein Zahnarzt und ein Beerdigungsinstitut.
Alles an einem Platz, dachte sie. Hier konnte ein Mensch leben und sterben, ohne die Stadt je verlassen zu müssen.
Die Idee, ein ganzes Leben an einem Ort zu verbringen, war für Claire unvorstellbar.
Sie hielt an einem Fußgängerüberweg an und sah dem dunkelhaarigen Jungen nach, der über die Straße lief, während er einen Baseball von einer Hand in die andere warf. An der Ecke kam eine blonde, schwangere Frau aus einer Arztpraxis. Die Einwohner der Stadt waren genau wie überall – jung, alt, allein, zusammen, in allen Größen und Formen. Es erinnerte sie daran, dass Menschen überall
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