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Sommer wie Winter

Sommer wie Winter

Titel: Sommer wie Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith W. Taschler
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geschenkt.
    Später feierten dann die Manu und er immer zusammen Geburtstag. Sie ist im Oktober geboren. Eigentlich bringt es ja Unglück, einen Geburtstag früher zu feiern, aber den vom Alexander haben wir immer schon im Oktober gefeiert. Im Oktober haben die Eltern Zeit für so etwas, im Dezember geht die Wintersaison los, da ist die Mutter mit den Gästen in der Pension beschäftigt und der Vater mit dem Skilift und seit sechs Jahren mit dem Hotel sowieso. Im Oktober und November sind keine Gäste
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da, mein Gott, haben wir das immer genossen! Auch die Eltern sind dann lockerer, nicht so gestresst, dafür mussten wir wieder mehr in die Kirche gehen und am Abend haben wir Rosenkranz gebetet. Wenn Gäste da waren, ist das meistens weggefallen.
    Am Anfang, im ersten halben Jahr, hat sich der Vater um den Alexander bemüht, er war wirklich nett mit ihm und hat ihn überallhin mitgenommen. Er ist mit ihm einmal sogar rodeln gegangen, da hat er uns mitgenommen. Das war ein Erlebnis für uns alle, die Eltern haben ja nie etwas mit uns unternommen.
    Die Mutter hat am Anfang mit dem Alexander kaum was geredet, nur das Notwendigste, sie hat ihn auch nicht auf den Schoß genommen oder ihn gestreichelt oder ihm ein Buch vorgelesen. Er war ja noch so klein. Uns, der Anna und mir, ist das schon aufgefallen und komisch vorgekommen. Wir haben uns dann um ihn gekümmert, er war ein bisschen unsere Puppe. Aber zwei, drei Jahre später dann hat die Mutter kaum mehr einen Unterschied zwischen uns und dem Alexander gemacht, auch der Vater nicht mehr. Er hat ihn nicht mehr überallhin mitgenommen und ist nicht mehr mit ihm rodeln gegangen.
    Eigentlich wollte ich von der ersten Nacht erzählen, die der Alexander bei uns war. Die Eltern sind mit ihm spät am Abend heimgekommen. Wir sind alle ganz neugierig bei der Tür gestanden und haben ihn angestarrt. Er hat total verschüchtert ausgeschaut,
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kein Wort gesagt und nur auf den Boden gestarrt. Wir haben die Eltern mit Fragen überfallen, wir haben gefragt, wie er heißt, wie alt er ist, wieso er keine Mutter hat, wieso sie gestorben ist und ob er jetzt für immer bei uns bleibt. Wir waren so laut und er hat angefangen zu weinen. Er hat heftig geschluchzt, sein ganzer Körper hat gezittert, und er wollte bei der Tür hinauslaufen. Die Mutter wollte ihn an der Hand in die Küche ziehen, um ihm eine Kakaoflasche zu geben, aber er hat sich auf den Boden gehockt und hat nur geweint. Der Vater hat ihn dann hochgehoben und ihn in unser Zimmer getragen, wo sein Bett aufgestellt worden ist. Der Alexander ist aber nicht im Bett liegen geblieben, sondern hat sich in eine Ecke, unter den Tisch, verkrochen. Wir haben die Mutter geholt, aber sie hat gesagt, wir sollen ihn halt lassen, wenn ihm kalt ist, geht er schon in sein Bett zurück.
    Am Morgen haben wir die Manu und ihn dort gefunden. Die Manu hat unter dem Tisch mit den Bettdecken und Pölstern ein Lager gemacht, und da haben sie geschlafen.
    Das werde ich nie vergessen! Es hat so nett ausgesehen, wie die beiden Kleinen da gelegen sind und geschlafen haben, die Manu ist auf dem Rücken gelegen und der Alex auf der Seite, mit seinem Kopf auf ihrer Schulter. Die Anna und ich haben so lachen müssen, da sind sie aufgewacht.

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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. B. und Andreas Winter
    Ja, ich vermiss meinen Papa total. Nein, den Alex vermiss ich nicht. Ich kenn den Alex nicht gut. Mag ihn auch nicht so.
    Er hat nie was mit mir geredet. Er ist immer nur rumgerannt auf dem Hof mit seinem dreckigen Gewand. Hat gebuckelt. Oder er ist weggelaufen. Auf die Alm zum Beispiel. Oder er hat sich in seinem Zimmer eingesperrt. Oder er ist mit dem Postbus weggefahren. Da hat dann die Mutter immer fest über ihn geschimpft.
    Für die anderen bin ich auch Luft gewesen. Nur für die Mama und den Papa nicht. Die Martina und die Manu haben zu mir oft »kleiner verwöhnter Fratz« gesagt. Ich wollte immer dazugehören. Zu den vier Großen. Ich bin neidisch gewesen. Die haben oft von früher geredet. Wie noch keine Gäste da gewesen sind. Oder sie haben über die allerersten Gäste gelacht. Ich habe nicht mitreden können.
    Und am Nachmittag bin ich meistens allein gewesen. Ich habe mir gewünscht, dass ich einen Bruder habe, der nur ein Jahr jünger ist. Oder dass ich älter bin und zu den anderen gehöre.

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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. Z. und Alexander Sommer
    Später sind dann die Fragen gekommen.
    Wieso ist das von der Polizei nicht

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