Sommer wie Winter
geglaubt und dann aber nur gesagt, sie soll die Sache nicht so aufbauschen und dem Gast aus dem Weg gehen, der fährt sowieso bald ab, und der Vater soll nichts erfahren. Die Manu hat es aber dem Vater erzählt, und der ist so fuchsteufelswild gewesen und hat den Gast rausgeschmissen.
Ich habe nicht gewusst, was ich zur Manu sagen soll, oder ob ich sie trösten soll. Sie hat so traurig ausgeschaut, wie sie es mir erzählt hat. Ich habe
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dann weiter vorgelesen aus dem Buch, das war die Stelle, wo der Odysseus zu seiner Penelope heimkommt und alle Freier mit Pfeilen durchbohrt. Dabei ist sie eingeschlafen.
Am nächsten Tag ist die Manu so heiser gewesen und hat sich grippig gefühlt. Sie ist im Bett geblieben. Das Wetter ist ganz schlecht gewesen, kalt und neblig und es hat genieselt. Der Nebel ist immer stärker geworden und weil das Vieh so weit oben war, habe ich gegen Abend rauflaufen müssen, damit ich es runtertreiben kann. Ich bin zwei Stunden rumgehetzt und habe das Vieh nicht gefunden. Ganz panisch bin ich geworden, weil ich gewusst habe, wenn dem Vieh was passiert, wird der Vater narrisch. Ich habe nichts mehr gesehen, nicht mal mehr die Hand vor meinen Augen, so stark war der Nebel, und habe mir die Lunge aus dem Leib gebrüllt. Ganz verschwitzt war ich und so Angst habe ich gehabt, dass ich das Vieh nicht finde und dass ich selber nicht mehr zur Hütte finde. Ich habe nämlich nur ein kurzärmeliges Leiberl angehabt und kaum bin ich ein bisschen stehen geblieben, habe ich gefroren.
Und dann bin ich auf einer Steinplatte ausgerutscht und niedergeknallt, mit dem Kopf auf einen spitzen Stein, und bin sofort bewusstlos gewesen. Wie ich aufgewacht bin, ist es stockdunkel gewesen und immer noch neblig und eiskalt. Mir ist so
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schlecht gewesen und der Kopf hat mir wehgetan, auf den Fingern habe ich das Blut gesehen und ich habe es auch über den Nacken rinnen gespürt. Ich habe nicht gehen können, obwohl ich’s probiert hab, aber ich bin zu schwach gewesen. Ich bin ab und zu so halb bewusstlos weggedöst und wenn ich wach gewesen bin, habe ich eine Riesenangst gehabt, dass ich hier sterben muss. Mir ist wieder die Hexe aus meinen früheren Träumen eingefallen und ich wollte sie aus meinem Hirn verscheuchen, aber sie ist immer wiedergekommen und hat ihre grausigen Hände um meinen Hals gelegt und mich gewürgt.
Und dann ist die Hexe plötzlich weg gewesen und das Gefühl, dass ich sterben muss, war irgendwie gar nicht so schlimm und sogar ein bisschen schön. Ich habe mich drauf gefreut. Einfach einschlafen wollte ich und nie mehr aufwachen und nie mehr wen sehen.
Spät in der Nacht, eigentlich schon gegen Früh, hat mich der Vater mit der Taschenlampe gefunden und zur Hütte getragen. Die Manu hat ihn geholt, weil ich stundenlang nicht zurückgekommen bin und sie mich nicht gefunden hat. Sie ist dann daheim geblieben, weil sie hohes Fieber gehabt hat.
Er hat meine Wunde mit Schnaps ausgewaschen, das hat so furchtbar gebrannt, und mich verbunden. Und weil es nur ein Bett gibt in der Hütte, haben wir nebeneinander geschlafen. Das ist für mich so
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ungewohnt gewesen, neben dem Vater zu liegen, und ich habe gar nicht einschlafen können. Ich habe ihn atmen gehört und seinen Geruch eingeatmet.
Am nächsten Tag hat er gemolken und dann sind wir mit dem Traktor runtergefahren. Beim Arzt hat er mich aussteigen lassen. Ich bin am Hinterkopf genäht worden mit sieben Stichen, die Ordinationshilfe hat vorher die Stelle ausrasieren müssen. Sie hat mich auch nachher heimgebracht.
Die Manu und ich sind dann ein paar Tage lang im Bett gelegen, aber vorlesen habe ich ihr am Anfang gar nicht können, so schwach habe ich mich gefühlt.
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Therapiegespräch im Jänner 1990
Dr. R. und Monika Winter
Ich bin im April 1934 geboren worden, hier in diesem Haus, im Schlafzimmer meiner Eltern. Zwei Jahre später ist meine Schwester, die Franziska, auf die Welt gekommen. Sie hat ziemlich jung nach Obergurgl geheiratet, sie und ihr Mann haben vier Kinder. Sie vermieten auch Zimmer an Gäste.
Danach hat meine Mutter keine Kinder mehr bekommen können, aber der Doktor hat nicht gewusst, wieso. Sie hat nur noch zwei Fehlgeburten gehabt und bei der zweiten wär sie fast verblutet. Zu mir hat sie einmal gesagt, dass sie froh darüber gewesen ist, dass sie nur zwei Kinder gehabt hat. Ich habe ihr das geglaubt. Vieles ist leichter gegangen deswegen. Sie hat die Frauen nicht beneidet, die jedes Jahr ein Kind bekommen
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